Als wenn die Situation nicht eh schon kompliziert genug wäre, verliebt sich mein Großvater Theo Hespers im Exil in eine andere Frau. Die Niederländerin Toos Verhagen wird in der Folgezeit auch für seine politische Arbeit eine wichtige Rolle spielen.
Neben aller politischer Aktivität, war mein Großvater Theo Hespers auch um das Wohl seiner Familie besorgt. So wie in Helmond konnte es nicht weitergehen. Es gab keine Möglichkeit, den Reformladen weiterzuführen, mit seiner Frau lag er ständig im Streit und sein Sohn hatte sich in Ermangelung anderer Spielkameraden bei den Wasserratten mit einer fiesen Hautkrankheit angesteckt.
Nein, so konnte es tatsächlich nicht weitergehen. Also beschloss mein Großvater wieder umzuziehen. Diesmal nach Eindhoven. Im Mai 1936 ging es also von Helmond aus in die Wilgenroosstraat in Eindhoven. Wahrscheinlich hat ihm auch diesmal sein Freund Max Behretz bei der Wohnungssuche geholfen. Oder aber eine dritte Person: Antonia Verhagen, genannt Toos.
Toos Verhagen war eine Bekannte von Max Behretz. Beide kannten sich bereits seit 1932. Denn auch in den Niederlanden gab es die Jugendbewegung. Und sowohl Toos als auch Max gehörten dem Nederlandse Bond van abstinent Studerenden (NBAS) an – also dem studentischen Abstinenzlerbund der Niederlande. Außerdem hat Toos Verhagen bei Philips in Eindhoven als Sekretärin gearbeitet. Auch Max gibt im Verhör an, 1932 als Radiotechniker für Philips gearbeitet zu haben. Ob das stimmt, ist nicht ganz sicher. In dem Fall aber auch nicht so wichtig. Viel wichtiger ist: Max ist derjenige, der meinen Großvater Theo mit Toos Verhagen bekannt macht.
Toos ist damals schon eine ziemlich ungewöhnliche junge Frau. Sie ist Anfang 30, spricht fließend Niederländisch und Französisch, auch ein ganz passables Englisch. Sie hat eine Ausbildung als Sekretärin – und als Gymnastiklehrerin. Mein Vater erzählt immer mit offenem Mund, welche Verrenkungen Toos bei den gemeinsamen Ausflügen präsentierte. Ich nehme daher an, dass sie auch so etwas wie Yoga praktiziert hat. Bei ihrer Ausbildung in der Schweiz hat sie außerdem Naturheilverfahren kennen gelernt. Und irgendwie drängt sich mir schon wieder eine Parallele zur heutigen Zeit auf. Denn in meinem Freundeskreis befinden sich einige, die ihre Bürojobs an den Nagel gehängt haben, um eine Ausbildung zum Yogalehrer zu machen – oder sich mit Yoga zumindest ein zweites Standbein aufgebaut haben. Manchmal ist das schon ein wenig seltsam, wie sich die Fäden an der Stelle zusammenspinnen. Aber zurück zu Toos.
Irgendwann zwischen Ende 1935 und Anfang 1936 kommt Max auf die Idee, meinen Großvater und Toos Verhagen miteinander bekannt zu machen. Er wusste, dass sie jede Menge Kontakte hatte und sicher eine gute Ansprechpartnerin war, wenn es darum ging, neue Kunden für die vegetarischen Reformartikel meines Großvaters zu finden. Die beste Gelegenheit für ein solches Treffen waren wohl die Zusammenkünfte des Nederlandse Trekkersbond in Eindhoven. Also brachte Max meinen Großvater eines Abends mit zu einer dieser Veranstaltungen, wie er in einem Verhör durch die Gestapo erzählt:
„In dieser Zeit [zwischen 1935 und 1936] fand die Veranstaltung mit der V e r h a g e n in Eindhoven statt. Wie eingangs meiner Vernehmungen geschildert […] habe ich ihn an dem Abend mit der Verhagen bekannt gemacht.“
Verhör Max Behretz, Oktober 1940
Veranstaltung mit der Verhagen heißt so viel wie: bei der Zusammenkunft des Nederlandse Trekkersbond hat Toos ein paar orientalische Tänze aufgeführt. Ob das meinen Großvater gleich um den Verstand gebracht hat, weiß ich nicht. Fakt ist aber: er hatte zu Hause ein Ehefrau, die ihm intellektuell nichts zu bieten hatte. Die lieber wieder nach Mönchengladbach wollte, als sich mit der politischen Situation in ihrer Heimat auseinanderzusetzen. Und Antonia Verhagen war das genaue Gegenteil meiner Oma. Sie war weltgewandt, weit gereist, im niederländischen Friedensbund aktiv und hatte womöglich eine umwerfende Figur. Ich will meinem Großvater durchaus zugestehen, auch für optische Reize empfänglich gewesen zu sein.
Wenn ich mir das Foto oben so ansehe, war sie vielleicht nicht das, was damals dem Schönheitsideal entsprach – sie hat schon ein sehr markantes Gesicht. Aber sie sieht aus wie eine selbstbewusste junge Frau. Eine Frau mit einer Haltung und einer Meinung. Eine, die nicht nur redet, sondern Worten auch Taten folgen lässt. Ich gebe zu, dass ich an dieser Stelle natürlich ein bisschen Vorwissen habe, liebe Leserschaft. Aber das, was ich von ihr weiß, passt gut zu dem, was ich oben auf dem Foto sehe.
Um das Kind beim Namen zu nennen: mein Großvater verliebt sich in diese charismatische Niederländerin. Und sie sich in ihn. Wie schnell oder langsam diese Liaison gewachsen ist, kann ich nicht sagen. Aber die beiden waren sich sehr nahe. Das Ganze ging allerdings weit über ein Liebesverhältnis hinaus. Toos wird im Verlauf der Geschichte eine ziemlich wichtige Rolle spielen. Sie ist es, die meinem Großvater perfektes Hochniederländisch in Wort und Schrift beibringt. Und sie ist es, die ihm weitreichende Kontakte in der niederländischen Gesellschaft verschafft.
Es ist nirgendwo dokumentiert. Aber mein Vater sagt immer, Toos habe Gymnastikstunden gegeben. Vielleicht war sie eine Art Personal Trainer oder Physiotherapeutin. Das konnten sich damals mit Sicherheit nur Personen der gehobenen Gesellschaft leisten. Dementsprechend bedeutend dürften ihre Kontakte gewesen sein. Fest steht, dass sie Beziehungen bis nach England hatte. Und das wird spätestens gegen Ende 1937 von Bedeutung. Aber dazu später.
Wie ich persönlich zu dieser Affäre meines Großvaters stehe? Ich finde es zutiefst menschlich. Diese Affäre macht meinen Großvater ein Stück weit zu einem normalen Menschen. Er war kein Heiliger. Für meine Oma war das sicher nicht besonders toll. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ihr kleiner Ausraster in Helmond auch von Eifersucht befeuert gewesen war. Es kann gut sein, dass sich Toos und mein Großvater damals schon gekannt haben. Eine dramatische Situation – gerade, wenn man im Exil lebt.
Aber es zeigt auch ein bisschen, wie mein Großvater getickt hat. Er war ein Freigeist. Katholisch erzogen, ohne Frage. Dabei darf man aber nicht vergessen, unter welchen Umständen diese Ehe geschlossen wurde. Meine Oma war schwanger. Die beiden sind bei einem Zeltlager übereinander hergefallen und – ups – schon war’s passiert. Am Ende ist das auch eine Form von Zwangsehe, die die beiden am 03. Mai 1930 geschlossen haben. Damals konnte ja noch niemand wissen, welche Wendung diese Geschichte nimmt.
Aber am Ende bin ich vor allem fasziniert. Fasziniert davon, was einem im Leben so alles passieren kann. Wie unerwartet sich die Dinge plötzlich entwicklen können. Da will ein guter Freund dir neue Geschäftskontakte vermitteln und schon befindest du dich in einer Liebesgeschichte. Ich bin relativ sicher, dass auch mein Großvater damals mit einigem gerechnet hat. Aber sicher nicht damit. Und dann ist diese Affäre auch noch enorm wichtig für deine politischen Aktivitäten.
Wir sitzen jetzt hier, im Jahr 2015, und wissen schon, wie die Geschichte aus geht. Dass mein Großvater das nicht überlebt. Aber damals 1935, vielleicht an einem schönen sonnigen Sommertag wie heute, treffen sich zwei Menschen bei einer Abendveranstaltung und amüsieren sich. Und sie ahnen vielleicht nicht mal im Ansatz, dass diese Begegnung später durchaus als schicksalhaft bezeichnet werden kann…
Theo Hespers – mein Großvater
Max Behretz – Freund meines Großvaters
Antonia Verhagen, genannt Toos – Geliebte meines Großvaters
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