Toos Verhagen ist nicht nur die rechte Hand meines Großvaters Theo Hespers. Sie ist auch seine Geliebte. Und als ob das noch nicht reichen würde, zieht sie auch noch mit ins Haus – und rettet am Ende meiner Oma das Leben.
1936 zieht also mein Großvater Theo Hespers mit seiner Familie nach Eindhoven. Zuerst in die Wilgenroosstraat und einige Monate später dann noch ein bisschen näher ins Zentrum von Eindhoven, in die Franciscus Sonniusstraat. Das Haus dort hatte zur Straße hin ein großes Fenster, wie das in Holland so üblich ist. Perfekt für das Reformgeschäft meines Großvaters. Und es gab noch eine Besonderheit: im Obergeschoss wohnte seine Geliebte – Toos Verhagen.
Ich versuche mir immer vorzustellen, wie das gelaufen sein kann. Alles, was ich über meine Oma weiß, und was mein Vater über sie erzählt, klingt nicht so, als hätte sie einfach gesagt: na klar! Gar kein Problem, zieht die Toos eben hier mit ein. Macht doch nichts. Zumindest dann nicht, wenn sie von der Affäre wusste. Aber vielleicht hat sie auch nichts davon gewusst. Zumindest zu dem Zeitpunkt noch nicht. Oder – und die Möglichkeit besteht ja auch noch – sie wollte es nicht wahrhaben und hat es erst mal ignoriert. Wenn es denn zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon eine Affäre gab, heißt das.
Denn irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass mein Großvater so ein kalter Knochen gewesen ist, der einfach seine Geliebte einfach ins Haus geholt hat. Am ehesten war es wohl zu diesem Zeitpunkt noch eine heimliche Liebe. Und für meinen Großvater war es aus rein praktischen Gründen wichtig, Toos in seiner Nähe zu haben. Denn als ausgebildete Sekretärin konnte sie wesentlich schneller und besser schreiben als er. Und ungefähr zu diesem Zeitpunkt – also um 1936 herum – fing mein Großvater auch an, Artikel für niederländische Zeitungen zu verfassen. Und nur damit das nicht zu kurz kommt: Toos hatte definitiv ein eigenes Interesse daran, dass die Artikel meines Großvaters in Umlauf kamen. Sie war bereits lange bevor sie sich kennengelernt hatten in der niederländischen Friedensbewegung aktiv:
„Die hatte Kontakte nach Irland, sie hatte Kontakte nach England, sie hatte überall Kontakte hin. Durch die Jugendbewegung. Jugendbewegung und Friedensbewegung. Die Friedensbewegung ist nicht zu unterschätzen!“
(Interview mit meinem Vater vom 15.03.2015)
So wie mein Vater sich erinnert, hat Toos in ihrer Wohnung Gymnastikstunden gegeben. Und hat eben als Sekretärin für meinen Großvater gearbeitet. Sie war es auch, die ihm perfekt niederländisch beigebracht hat. Wobei man dazu sagen muss, dass mein Großvater wohl auch recht sprachbegabt war. Vor seinen Reisen in den 20er Jahren hat er immer versucht, auch die Sprache des Landes zu lernen, das er bereist. Definitiv sprach er spanisch und französisch, sagt mein Vater. Nur englisch sprach er nicht. Aber dafür hatte er ja Toos.
Doch egal ob die Affäre da schon Bestand hatte oder nicht: ich kann mir nicht vorstellen, dass die beiden Frauen sich besonders nah waren. Allein schon, weil die Charaktere so unterschiedlich waren. Meine entwurzelte, im Ausland etwas hilflose Oma mit der großen Klappe auf der einen Seite und die selbstbewusste, intellektuelle und sehr selbständige Toos auf der anderen. Und dann haben Toos und mein Großvater ja noch miteinander gearbeitet und dadurch sicher auch sehr viel Zeit miteinander verbracht. Also ich an der Stelle meiner Großmutter wäre – begründet oder nicht – auf jeden Fall eifersüchtig. Trotzdem haut mein Vater im Gespräch dann plötzlich diesen Satz raus:
„Die Toos Verhagen hat der Oma auch viel Gutes getan. Sie war so was ähnliches wie eine Naturheilpraktikerin und hat die Oma sozusagen vor dem Tod gerettet.“
(Interview mit meinem Vater vom 26.12.2014)
Das macht das Ganze natürlich noch ein bisschen interessanter. Da sind also zwei Frauen, die beide meinen Großvater lieben. Die unter einem Dach wohnen. Und die guten Grund hätten, sich gegenseitig nicht so cool zu finden. Und dann rettet die eine der anderen das Leben. Und tatsächlich glaube ich die Geschichte, die mein Vater erzählt. Denn der kann da maximal sechs Jahre alt gewesen sein. Und wenn man in dem Alter was behält, dann sind das einschneidende Erlebnisse.
„Meine Mutter hatte eine Nierenbeckenentzündung. Und da war ein Arzt gewesen – damals die Ärzte wussten sowieso nix – und der sagte, als der mal meine Mutter besucht: „Het kommt dar niets meer van terecht.“ Passiert. Hat man mal sterben lassen. Aus. Feierabend.
Die Toos Verhagen hat sie mit – die kleinen schwarzen Körnchen – Leinsamen, mit Leinsamen hat sie sie gesund gemacht. Mit Leinsamensud. Die hat sie gekocht und von den Körnern abgeschüttet und das der Omma zu trinken gegeben. Hat sie jedenfalls gesund gemacht.“(Interview mit meinem Vater vom 26.12.2014)
Allein die Details an die sich mein Vater erinnert, machen die Geschichte glaubhaft. Und er erinnert sich daran, dass Tante Toos, wie er sie nennt, ab diesem Zeitpunkt das Kommando im Haushalt übernommen hat. Das war ein strenges Regiment. Meine Oma hat ihren Sohn abgöttisch geliebt. Eine regelrechte Affenliebe sagt mein Vater immer. Das führte dazu, dass sich mein Vater weder selber anziehen noch sich die Schuhe binden konnte. Mit sechs Jahren.
Tante Toos hat wohl nicht eingesehen, sich für den kleinen Ruppsack krumm zu machen und im null Komma nix lernte mein Vater, sich selbst anzuziehen. Aber sie hatte auch nette Seiten. Wenn mein Vater es abends pünktlich vom Spielen nach Hause schaffte, gab’s immer eine Tasse süßen, heißen Kakao und ein Weißbrot mit Marmelade.
Richtig dicke Freunde waren die beiden damals aber wohl trotzdem nicht. „Ehrlich gesagt, ich kann mir das immer nicht vorstellen. Die Toos, die konnte man nicht lieben“. Das hat mein Vater letzte Woche noch gesagt. Vielleicht beruht diese Affenliebe zwischen meiner Oma und meinem Vater aber auch einfach auf Gegenseitigkeit. Und dann will er vielleicht einfach nicht wahr haben, dass es neben seiner Mutter eine andere Frau für seinen Vater gegeben hat. Dabei hat Toos Verhagen meinem Vater Jahrzehnte später selbst von dieser Liebe erzählt.
Wer übrigens einen Eindruck davon haben will, in welcher Aufbruchsstimmung sich die jüngere Generation damals befunden hat, dem möchte ich gerne folgenden Film ans Herz legen: „Elser – Er hätte die Welt verändert„. Im Film über Georg Elser (der Mann, der am 08.10.1939 das Bombenattat auf Hitler im Bürgerbräukeller in München verübte) wird eigentlich ganz schön das Lebensgefühl eingefangen, das Anfang der 30er Jahre in einigen Teilen der Jugendbewegung herrschte. Denn während die einen den Nazis hinterhermarschiert sind, haben die anderen versucht, sich aus den engen Fesseln ihrer Elterngeneration zu befreien. Sie haben nach einem neuen, besseren Leben gesucht. Jenseits der geltenden Konventionen. Ein Stück weit gilt das auch für meinen Großvater. Ich kann mir gut vorstellen, dass es ihm ähnlich ging, wie Georg Elser. Dass er ein ähnliches Weltbild hatte. Nur hat er versucht den Kampf mit anderen Mitteln zu führen. Trotzdem kommen sich 1939 die Geschichten der beiden Widerstandskämpfer erstaunlich nahe…
Theo Hespers – Widerstandskämpfer und mein Großvater
Käthe Hespers – geborene Kelz, meine Oma
Antonia Verhagen – Spitzname: Toos, Sekretärin und Geliebte meines Großvaters
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