Mein Großvater Theo Hespers hat im Exil eine Affäre mit der Niederländerin Toos Verhagen. Mein Oma weiß davon. Sie leben zeitweise sogar unter einem Dach. Doch dann kommt es zur Zerreißprobe für die Dreiecksbeziehung – mittendrin: Mein Vater.
„Ja, vertell! Frag, frag, frag …“ – hat mein Vater in unseren Interviews immer gesagt, wenn er einen Hänger hatte und kurz überlegen musste, welche Anekdote er jetzt als nächste aus seinen Erinnerungen hervorkramt. Nichts davon hat eine zeitliche Reihenfolge. Die muss ich mir immer mühsam zusammenbasteln. Wenn das denn überhaupt geht.
Vor über einem Jahr habe ich euch hier im Podcast mit einer Geschichte zurückgelassen, die sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland abgespielt hat. Zu einer Zeit als seine beiden Eltern – also meine Großeltern – im Gefängnis saßen. Meine Oma im Frauengefängnis in Vechta. Und mein Opa im Spionage-Abwehr-Gefängnis in Wilhelmshaven beziehungsweise im Reichssicherheitshauptamt in Berlin. Dass ich so lange keinen Podcast mehr veröffentlicht habe, hat zwei Gründe. Der eine – und wohl sehr nachvollziehbare Grund heißt: Pandemie. Der andere Grund: Ich habe ein Buch geschrieben. Über meinen Opa, die Beziehung zu meinem Vater und unsere Zeit heute. Nebenbei die Erzählung hier aufrecht zu erhalten, das ging einfach nicht. Aber: Das Buch ist das Buch – und der Podcast ist der Podcast. Und deshalb geht es jetzt endlich auch hier weiter.
Im Mai 1936 zieht die Familie meines Großvaters weg aus dem einsamen Helmond …
„In Helmond war es stinklangweilig!“
Interview mit meinem Vater vom 15. März 2015
… ins wesentlich belebtere und besser angebundene Eindhoven. Zuerst in die Wilgenroosstraat im südlichen Teil der Stadt, dann – ein Jahr später – in die Franziscus-Sonnius-Straat, die fast zentral liegt. Im Verhör mit der Gestapo gibt mein Großvater als Grund für den Umzug an:
„Mein Vorhaben war, in Holland festen Fuß zu fassen und nicht immer als Emigrant angesprochen zu werden. Da ich in Deutschland ausgebürgert war, wollte ich die holländische Staatsangehörigkeit erwerben. Aus diesem Grunde glaubte ich, durch meine Tätigkeit mit der Zeit Journalist zu werden und somit eine feste Existenz gründen zu können.“
Aus dem Verhör mit der Gestapo vom 17. April 1942 in Wilhelmshaven. Der Verlust der Staatsangehörigkeit wurde im Deutscher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger vom 1.2.1937 bekannt gegeben
Da steht es! Im Verhörprotokoll vom 17. April 1942. Das war der Moment als ich dachte: Krass. Mein Großvater hat sich tatsächlich als Journalist verstanden. Und heute bin ich die Journalistin. Mein Vater hat immer von „politischer Arbeit“ gesprochen, von Widerstandsarbeit. Aber nie davon, dass mein Großvater sich als Journalist verstanden hätte. Und deshalb habe ich das selbst auch nie zusammengebracht. Allerdings muss ich meine Euphorie hier natürlich auch ein bisschen bremsen. Denn natürlich hat mein Großvater sich des journalistischen Handwerks bedient, Artikel geschrieben, die in verschiedenen – auch niederländischen – Zeitungen veröffentlicht wurden. Aber er hatte auch eine klare politische Motivation. Er hat gegen das NS-Regime angeschrieben. Einen gewissen Aktivismus kann man da nicht rausrechnen. Auf der anderen Seite: Wenn wir im Angesicht von Menschenrechtsverletzungen – deren Grundlage, die Menschenrechte, zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht offiziell deklariert waren – nicht klar Stellung beziehen, auch und gerade als Journalistinnen und Journalisten – wann dann?
Das Haus in der Franciscus-Sonnius-Straat in Eindhoven hat zwei Etagen. In der unteren Etage gibt es eine riesengroße Fensterfront, wie das in den Niederlanden recht häufig zu sehen ist. Die eignet sich perfekt als Auslage für die Reformwaren, die mein Großvater nach wie vor vertreibt. Denn er ist ja nicht nur politischer Flüchtling, sondern inzwischen auch noch staatenlos. Die deutsche Staatsbürgerschaft wurde ihm aberkannt – die niederländische bekommt er einfach nicht. Er bekommt lediglich einen Gunstpass, der es ihm ermöglicht zu reisen. Nach Belgien etwa zu seinem Freund Plato. Oder auch – mit Hilfe von Gunstpass und Visum – nach Großbritannien.
Am Interessantesten an der Wohnsituation ist allerdings, dass im September 1938 Toos Verhagen mit in das Haus einzieht. Sie wohnt nicht nur in der oberen Etage, sondern unterhält da auch ein Gymnastikstudio. Was da genau gelaufen ist zwischen meinem Opa, Toos und meiner Oma, da war ich mir lange unsicher, ob ich den Geschichten meines Vaters wirklich glauben kann. Hatte mein Opa tatsächlich eine Affäre mit Toos Verhagen? Und hat er sie – und das hab ich einfach für total ungewöhnlich gehalten – allen ernstes auch noch bei sich einziehen lassen? Bei den Recherchen zum Buch finde ich tatsächlich eine Antwort. In einem Brief meines Opas, den er am 6. August 1942 aus der Gestapo-Haft in Berlin an seine Familie schreibt:
„Mit manchem Priester und ernsten Menschen habe ich mich über alle Probleme des Glaubens unterhalten und habe ehrlich geglaubt, daß ich das Richtige wolle, aber im praktischen christlichen Leben habe ich versagt. Durch meine unharmonische Ehe bin ich zu Irrungen gekommen. Aber es war so, daß Käthe und dann ich ehrlich überzeugt waren, eine zeitlang, einem anderen Menschen unsere Freundschaft geben zu dürfen, dem wir wirklich zugeneigt waren. Wir haben beide sehr darunter gelitten und den Irrtum spät erkannt und bereut.“
Aus einem Brief von Theo Hespers vom 6. August 1942 aus der Gestapo-Haft in Berlin
Offene Beziehung a la 1938. Ich bin wirklich gerührt als ich das lese und kann gar nicht genau sagen, warum. Vielleicht, weil es meinen Großvater so menschlich werden lässt. Ein Mann, der glaubt, liebt, zweifelt, Entscheidungen trifft, bereut … der trotz seines strengen moralischen Kompass eben auch nicht weiß, wie Leben geht. Der mit seinen Überzeugungen hadert – und Wege sucht. Bei dem Herz und Hirn kämpfen, wie bei so vielen anderen Menschen auch. Es sind solche Momente, die ihn mir so viel näher bringen als all seine Heldentaten, an denen ich mich nie werde messen können. Und hoffentlich nie werde messen müssen.
Für meinen Vater ist die neue Mitbewohnerin einfach nur Tante Toos. Und ansonsten macht er das, was kleine Jungs eben so machen:
„Wir haben das gemacht, was Gott verboten hatte! Die größte Scheiße. Und mein Vater, der sagte, nee, der Junge, der verwildert total. Käthchen du kannst den Jungen nicht erziehen, du gibst dem jede Freiheit! Aber frei ist – da deklamierte er: ‚Frei ist wie man eine Rebe bindet, dass sie statt im Staub zu kriechen hoch sich in die Lüfte windet.‘ Schiller. Das war sein … heutzutage finde ich das gar nicht schlecht – aber zur damaligen Zeit bestimmt nicht!“
Aus einem Interview mit meinem Vater vom 15. März 2015
Wir, das waren Klein-Dieter, also mein Vater, und seine Freunde Jantje und Fransje, die Straßenlümmel. Um seinen Sohn von den beiden Rabauken fern zu halten, arrangiert mein Opa Playdates mit den Kindern der feinen Gesellschaft. Also zumindest versucht er das. Eines dieser Kinder war Reini – und – nunja. Mein Vater hatte so seine eigene Art, wie er sich aus der Nummer wieder raus laviert:
„Ich kam zum Reini Kaiser hin. Merkte sofort, dass das ein total verwöhntes Kerlchen war. Ich war auch verwöhnt, aber auf ne andere Art und Weise. Und da zeigte der mir seinen Zug. Und sobald ich mit seinem elektrischen Zug spielen wollte, sagte der ‚Muke! Die duitse jongen maakt mijn train kapott.‘ Da stand ich da und durfte nicht an seinen train gehen! Ich durfte an nichts dran gehen. Überall schrie er nach seiner Mutter. Ich dachte, du bist im Gefängnis jetzt. Aus mit dir. Die Jugend ist vorbei. Dann kam das Frühjahr.
Es gab im Frühjahr ein kleines Höfchen, und Keller gab es ja nicht, Wasserspiegel war zu hoch, da war ein Schuppen! Und – ich müsste das zeichnen, wenn ich zeichnen könnte, ich würde das alles zeichnen. Dann fing er an zu graben, hatte ne kleine Schüppe mit und ich sag: ‚Lat me oog ens! Ne, je mach niet, is mij schop!‘ Und dann stand ich dann da – und er grub und grub und grub. Plötzlich sah ich auf dem Dach von dem Schuppen zwei Köpfchen, das waren die Köpfe meiner Freunde, meiner Straßenfreunde. Von Jan van Neden und Frans Rossio. Guckten, ich hieß nicht Dirk, ich hab später auf der Flucht den Namen Dirk bekommen. ‚Dieter‘, sagten die zu mir, ‚Dieter! Ben je da? Warom spelt je niet mer met ons?‘ Und die flüsterten sich was zu, ich wusste nicht was, und dann stellten die sich auf das Dach, Hände in die Hüften und sagten: ‚Reini! Wat du je dar, jonge? Maak je een grote schapt? Je moet noch viel groter make, et schapt.‘ Der grub und grub und wurde endlich mal anerkannt von Straßenjungen und so weiter! Seine Brust schwoll richtig. Und nachher war er so tief! Und da wollte er raus kommen. Der konnte aber nicht mehr. Das war beabsichtigt. Die hatten den animiert noch tiefer zu graben, damit er weg war. Und dann schrien die: ‚Reini! Nu kann je uitkomen!‘ Und dann schrie er: ‚Ik kann niet meer, Muke, help, Muke, ik kann niet meer! Die duitse jongen …‘ Und dann sagten die zu mir: ‚Komm, komm, Dieter, da gaan wij van door.‘ Und dann zogen die mich das Dach hoch und weg waren wir. Und seit der Zeit brauchte, durfte ich mit Reini Kaiser nicht mehr spielen. Da war ich den los.“
Ich: „Was hat dein Papa dazu gesagt?“
Mein Vater: „Keine Reaktion. Also bei solchen Tatsachen, der war ja auch humorvoll, so war das nicht. Der hat ja früher selbst Streiche gemacht noch und noch! Das fand der schon irgendwie gut. Mit der Erziehung, das war in die Buchse gegangen.“
Aus einem Interview mit meinem Vater vom 15. März 2015
Tja, das wars dann wohl mit der feinen Gesellschaft. Nicht, dass mein Vater das sehr bereut hätte. Er klingt zumindest nicht so. Vielmehr ist ihm auch bei unserem Gespräch im Februar 2015 noch die diebische Freude anzusehen, die er beim Erzählen dieser Geschichte hat. Aber ich erfahre an diesem Tag auch noch ein bisschen mehr über die Dreiecksbeziehung zwischen seiner Mutter, seinem Vater und „Tante Toos“.
Die hatte nämlich durchaus auch Einfluss auf das Familienleben – und beschert mir einen neuen Aha-Moment. So wie mein Vater sich erinnert, muss es um den Zeitpunkt der heiligen Kommunion gewesen sein. Also irgendwann im Frühjahr 1939. Zur Vorbereitung geht mein Vater zum Kommunionunterricht – die Katholik:innen unter euch werden das kennen.
„Bei den Nonnen wurden wir vorbereitet. Und da wurde erzählt dies und jenes und Freitag durfte kein Fleisch gegessen werden und ich dachte: Nu, machste nen Dicken bei den Nonnen! Hab ich aufgezeigt und gesagt: ‚En wij eten nooit vlees!‘ Da wurd die Nonne wütend! Das war gegen die Regel! Es musste sonst Fleisch gegessen werden, nur freitags nicht.“
Ich: „Und ihr habt gar kein Fleisch gegessen?“
Mein Vater: „Nee! Vegetarier! Totale Vegetarier!“
Ich: „Dein Vater?“
Mein Vater: „Alle!“
Ich: „Ach, wusste ich gar nicht. Du hast doch immer Fleisch gefuttert!“
Mein Vater: „Ja, wenn ich es kriegte! Ich kriegte es zu Hause nicht! Ja, ich bin doch kein Vegetarier! Von der Art bin ich kein Vegetarier. Aber es war damals üblich, wer in der Jugendbewegung war, war auch Vegetarier. Die Holländer hatten ja angefangen, den Wandervogel zu imitieren. Die hatten den Nederlands Trekkersbond gegründet. Der war ähnlich in der Art. Aber sie waren den Deutschen sehr zugetan. Da gibt es Liederbücher, da sind ein Drittel von deutsche Lieder drin. Und er war auch im Nederlands Trekkersbond und im Wandervogel, das passte ja alles zusammen. Und die Toos Verhagen, die bei uns wohnte als Gymnastiklehrerin. Die hatte den Vegetarismus eingeführt. Mein Vater brauchte die ja dringend, weil die so tüchtig war. Die war komplett ausgebildete Sekretärin. Mehrsprachig konnte die Schreibmaschine schreiben, die konnte Kurzschrift, alles …“
Aus einem Interview mit meinem Vater vom 15. März 2015
Ohne Witz – bis zu dem Tag hatte ich absolut keine Ahnung, dass auch mein Großvater vegetarisch gelebt hatte. Denn in meiner näheren Familie war ich bislang die einzige, die sich vegetarisch ernährt und auch Milchprodukte weitgehend aus ihrer Ernährung ausgeschlossen hat. Ich hab mich damit immer ziemlich allein gefühlt. Und auch wenn meine Familie sich bemüht, das zu respektieren – so richtig verstehen tun sie’s nicht. Und deshalb freu ich mich tatsächlich sehr, dass ich da was mit meinem Großvater gemeinsam habe, auch wenn das bei ihm sicher kein Protest gegen Massentierhaltung und Kükenschreddern war.
Auch Toos lerne ich in der Geschichte noch ein bisschen besser kennen:
„Tante Toos, die war atheistisch kann man nicht sagen, die war so ein bisschen asiatisch. Die probierte alle Religionen aus. Die hatte einmal eine Religion ausprobiert, die nannte sich christliche Driekant Gemeenschap. Dann brachte die von dem Gottesdienst dreieckig geschnittene Bütterken mit. Mit Pindakaas, mit Schokolade en met kaas. Und die hab ich mit Heißhunger gegessen! Ich weiß genau … aber die Driekant Gemeenschap da hielt – der war sie auch nicht treu. Die probierte alle Religionsgemeinschaften aus. Alleen de katholike kerk haatte zij. Die war ja protestantisch aufgewachsen. Nordholland und so.
Aus einem Interview mit meinem Vater vom 15. März 2015
Mit „asiatisch“ meint mein Vater wahrscheinlich buddhistische Lehren. Und als Gymnastiklehrerin ist Toos möglicherweise auch mit Yoga in Berührung gekommen, das in den 20er und 30er Jahren auch in Europa immer bekannter wurde. In Berlin und Budapest wurden zu diesem Zeitpunkt die ersten Yogastudios eröffnet. Aber zurück zu den Katholiken und der heiligen Kommunion meines Vaters.
„Jetzt sind wir also in Eindhoven. Was hatte ich? Einen Bleyle-Anzug – es gab früher in Deutschland Matrosenanzüge, die waren aus Bleyle, das ist ein Zwirn, ganz stark, der war nicht klein zu kriegen! Dreiviertel Hosen, in dunkelblau, öhm – so gestrickt aus Zwirn gestrickt, die gibts heutzutage nicht mehr. Und Matrosenanzüge auch aus Zwirn gestrickt. Dann wurde der Anzug noch mal gewaschen, auf nem Brett natürlich, Maschinen gab es damals noch nicht, und dann kriegte ich den Anzug an. Das war mein Anzug. Und die anderen, die ganzen Proleten, die waren schick angekleidet worden, die letzten Gelder waren ausgegeben worden. Die Leute hatten sich in Schulden gestürzt und so weiter, alleine für die Heilige Kommunie, das war das höchste, was es überhaupt gab! Die Heilige Kommunie. Und dann ging es in die Kirche. De Meisjes op de linke Kant en de jongens op de rechte Kant. Dann gabs die Zeremonien und so weiter und ich weiß jedenfalls, es ging vorüber, es ging vorüber, ne. Ich weiß, ganz andächtig waren wir auch nicht. Es gab früher ein Spielchen, das spielten wir in der Kirche immer.
Dann kamen wir nach Hause. Da wurde geschwelgt bei den Proleten, da wurde geschwelgt. Und bei uns, was gab es da? Meine Mutter konnte sowieso nicht kochen, selbst wenn das Zeug da gewesen wäre. Ich weiß gar nicht was wir zu mittag gegessen haben, Kartoffeln werden dabei gewesen sein, aber sonst? Ich weiß wohl, was sie gut konnte, sie konnte gut Grießmehlpudding machen. Grießpudding. Das konnte die gut. Und manchmal machte die Grießmehlpudding. Grießmehlpudding da kam dann meistens Schokoladensoße drauf oder Himbeersoße oder sie machte Schokoladenpudding und da kam dann Vanillesoße drauf. Das konnte sie gut, aber sonst… Hat mich auch nicht interessiert… Gut, wir haben – die Kommunion war noch nicht ganz zu Ende. Das Mittagessen war erst mal dran. Nachmittags mussten wir wieder zur Andacht gehen. Und dann passierte es.
Ich wurde von meinem Vater beschenkt. Und zwar schenkte mein Vater mir einen Brotbeutel und eine Feldflasche. So ne alte Feldflasche wie die im 1. Weltkrieg üblich waren. Das war eine Feldflasche aus Aluminium eingepackt in Filz. So wie ein Boxbeutel in der Form von. Ich fand das war prima – hatte aber – ich konnte das symbolisch nicht packen. Er kam aus der Ecke und hat gedacht: mein Sohn soll sowas ähnliches machen später. Aber das war für mich – das war gut, das war was anderes – aber ein bisschen enttäuscht war ich doch.“
Ich: „Was haben denn die anderen gekriegt?“
Mein Vater: „Och, das Letzte. Manche kriegten ein Fiets und so weiter. Ein Fiets, die Mädchen kriegten Puppen, Geld und so weiter …“
Aus einem Interview mit meinem Vater vom 15. März 2015
Der Tag nimmt allerdings eine dramatische Wendung – und vielleicht ist er meinem Vater nicht zuletzt deswegen auch so lebhaft Erinnerung:
Tante Toos war dann dabei, wir waren zu Dritt. Tante Toos, Vader, Moeder en ik. Dann meine Mutter, als wenn nichts gewesen wäre, als wenn die Nazis uns nicht auf den Hacken gestanden hätten: Ja, Dieter, und jetzt fahren wir nach Dahl. Nach Mönchengladbach. Ist der Tag der Kommunion. Da können wir meine Eltern mal besuchen und meine Verwandten. Mein Vater sagt: du kannst fahren! Der Junge aber nicht. Und dann zog die mich – mein Vater zog von der anderen Seite mich ins Zimmer rein. Das war eine Zieherei hin und her. Bis meine Mutter nachher unter Tränen nachließ. Mein Vater war ja stärker. Die konnte sich nicht vorstellen, dass die Nazis eventuell sie nicht, aber mich zurückgehalten hätten als Pfand. Das wusste er, das konnte nicht sein, was die da machte. Und dann ging die ganze Sache ziemlich traurig. Ich weiß Tante Toos dann, die lachte ironisch, sie sagte: En dat is een katolik echtelijk. Das ist eine katholische Ehe. Das war für sie Wasser auf die Mühlen, denn – sie schwärmte für Theo …
Aus einem Interview mit meinem Vater vom 15. März 2015
Am 1. Mai 1939 zieht Toos dann aus. Das muss kurz nach dieser Heiligen Kommunion gewesen sein. Ob das was miteinander zu tun hatte, kann man jetzt natürlich nur raten. Aber es klingt ein bisschen so als wäre das Experiment „offene Beziehung“ an diesem Tag gescheitert. Auch ob die Zusammenarbeit mit meinem Opa danach weitergeht, weiß ich ehrlich gesagt nicht. In den Verhören jedenfalls redet Toos ihre Rolle in der Gruppe ziemlich klein.
Sie hat nachher, obwohl ich die Tante Toos mochte, sie hat nachher alles dem Theo zugeschoben. Sie ist mit zwei Jahren davongekommen und ist noch während des Krieges wieder frei gekommen. Die hat also in Rheindahlen hat die Kappes treten müssen und im Zuchthaus Anrath war sie inhaftiert.
Aus einem Interview mit meinem Vater vom 15. März 2015
Kappes treten heißt übrigens Kohl stampfen, damit daraus nachher Sauerkraut wird zum Beispiel. In den Verhören jedenfalls belastet sie meinen Großvater tatsächlich schwer, während sie von sich selber als unbedeutende Tippse erzählt. Die Nazis haben ihr diese Rolle problemlos abgenommen. Ich tue das nicht. Und ich finde es unendlich schade, dass ich nie die Chance hatte, selber mit Toos über diese Zeit zu sprechen. Es wäre sicher spannend gewesen, die ganze Geschichte aus ihrer Sicht zu erfahren. Denn im Gegensatz zu meinem Opa und Selma Meyer hat sie immerhin überlebt.
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