Wir halten das oft für selbstverständlich. Ein Leben in Freiheit. Ein Leben mit allen Freiheiten. Ein Leben, für das die Jugend zur Zeit meines Großvaters noch ziemlich kämpfen musste. Das waren ganz seltsame Anwandlungen, die die jungen Leute da damals hatten. Ich will euch nicht unnötig auf die Folter spannen, aber für mich war es wichtig einordnen zu können, wie mein Großvater tickte – und woher er seine Ideen hatte. Deshalb will ich euch kurz entführen in die 1920-30er Jahre – die große Zeit der Bündischen Jugend.
Wir halten das oft für selbstverständlich. Ein Leben in Freiheit. Ein Leben mit allen Freiheiten. Ein Leben, für das die Jugend zur Zeit meines Großvaters noch ziemlich kämpfen musste. Das waren ganz seltsame Anwandlungen, die die jungen Leute da damals hatten. Ich will euch nicht unnötig auf die Folter spannen, aber für mich war es wichtig einordnen zu können, wie mein Großvater tickte – und woher er seine Ideen hatte. Deshalb will ich euch kurz entführen in die 1920-30er Jahre – die große Zeit der Bündischen Jugend.
„Als Jugendbewegung wird eine besonders im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einflussreiche Strömung bezeichnet, die dem von der Industrialisierung geprägten städtischen Leben eine vor allem in Kreisen der bürgerlichen Jugend sich ausbreitende Hinwendung zum Naturerleben entgegensetzte. Ein weiteres Merkmal war der romantische Rückgriff auf hergebrachte Kulturelemente, wobei die Wiederaneignung von Volksliedern und unmittelbare Formen der Geselligkeit eine herausragende Rolle spielten.“
Aus dem Wikipedia-Artikel zum Thema Jugendbewegung – Abruf 13.01.2015
Experte in Sachen Bündische Jugend ist mein lieber Kollege Matthias von Hellfeld. Er hat über die Aktivitäten der Bündischen Jugend promoviert und mir letztes Jahr ihm August noch mal einen Nachmittag geschenkt, um ihn mit Fragen löchern zu können. Das Thema ist gleich aus mehreren Gründen wichtig und spannend. Zum einen, weil es ein bisschen die Geisteshaltung meines Großvaters erklärt. Was ihn und sein Denken ausmacht – und damit auch zum Großteil seine Person. Zum anderen sind viele Bündische – so nennen sich die Angehörigen der Bündischen Jugend oder Jugendbewegung – in der Opposition gewesen oder ebenfalls im Widerstand. Natürlich bei weitem nicht alle. Denn Bündische Jugend ist tatsächlich nur ein Oberbegriff für eine ziemlich heterogene Gruppe:
„Vor 1933 gab es ungefähr summasumarum eine Millionen Jugendliche von ungefähr acht Millionen im Alter von 10-20 – ungefähr eine Millionen, die sich in diesen bündischen Organisationen versammelt haben. Also katholische, evangelische, jüdische, pfandfinderische, militärische, rechte, linke – alles was du willst, hun-der-te, also es gab wirklich Hunderte.“
Matthias von Hellfeld, Interview vom 28.08.2014
Allen gemein war, dass sie organisiert waren. Mein Großvater zum Beispiel gehörte dem Quickborn an. Ein Abstinenzlerbund, der auf die Genussgifte Alkohol und Tabak verzichten wollte. Klingt erst mal ziemlich lame wahrscheinlich. Aber tatsächlich war das damals eine Gruppe kleiner katholischer Revoluzzer. Die wollten so verrückte Dinge wie die Anerkennung der Jugend nicht nur als Vorstufe zum erwerbstätigen Erwachsenenleben. Nein, die wollten die Jugend als eigenen Lebensabschnitt anerkannt haben mit „eigenen Zielen und eigenen Freuden“ wie es so schön heißt. Oder sexuelle Aufklärung. Bei einem katholischen Jugendbund – und das 1913. Und dann forderten sie auch noch die Einbeziehung beider Geschlechter in dieses bündische Treiben. Das hat bei den Obrigkeiten ordentlich Schnappatmung ausgelöst und führte sogar auf der deutschen Bischofskonferenz zu einem Antrag, den Jugendbund doch bitte zu verbieten.
Mein Großvater ist als 14-jähriger dem Quickborn beigetreten, das war dann wohl zwischen 1917 und 1918. Und auch meine Großmutter gehörte dem Quickborn an. Außerdem gehörte mein Großvater verschiedenen anderen Bünden an. Unter anderem ab 1930 dem „Jungnationalen Bund“ gegründet 1924 von Hans Ebeling, einem ehemaligen Leutnant aus dem 1. Weltkrieg (ich zucke übrigens immer noch zusammen, wenn ich „national“ lese, aber dann muss man sich kurz vor Augen halten, dass man 1933 noch „national“ sein konnte, ohne Nazi zu sein). Im Exil wird Hans Ebeling ein wichtiger Verbündeter meines Großvaters, aber dazu später. Denn wichtiger und interessanter ist eigentlich, was sich in diesen Bünden abspielte.
Denn so verschieden diese Bünde waren, eins hatten sie alle gemeinsam – sie wanderten was das Zeug hielt. Vornehmlich am Wochenende und in den Ferien. Dann schnürten die Jungs und auch einige Mädels ihren Rucksack – Affen genannt – nahmen ihre Klampfe und streiften durch die Natur. Zelte gab’s natürlich auch. Aber nicht diese mit einer Handbewegung aufgebauten Wurfzelte, wie sie heute auf Festivals überall rumstehen. Nein, das Ding nannte sich Kothe und sah aus wie ein Indianertippie – schön mit einem großen Loch in der Mitte für den Qualm vom Lagerfeuer. Dafür ohne Stolperschnüre und Heringe. Ein bisschen wildromantisch eben.
Diese Jugendbünde gab es übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch im benachbarten Ausland wie zum Beispiel in den Niederlanden oder Österreich. Und weil Mönchengladbach ziemlich dicht an der niederländischen Grenze liegt, gingen die Touren – oder Fahrten wie man das in Kreisen der Jugendbewegung nennt – auch gerne mal nach Holland. In den langen Ferien im Sommer ging man dann auf große Fahrt. Was soviel heißt wie: Liederbuch geschnappt, Klampfe, Zelt, Affe auf den Rücken und ab nach Skandinavien zum Beispiel. Oder in den Süden. Nach Spanien oder Italien. Oder wie mein Großvater später bis nach Marokko. Das alles natürlich zu Fuß. Wer hatte damals schon ein Auto. Mit Glück hat man wahrscheinlich hier und da mal auf einen Pferde- oder Eselskarren aufspringen können. Viel Geld hatten die Jungs und Mädels auch nicht dabei. Aber mit einer Gitarre ließ sich schon damals ein bisschen was verdienen. Und zur Not packte man halt mit an und verdiente sich so Essen oder eine Unterkunft.
Natürlich waren die jeweiligen Bünde organisiert. Ein bisschen wie bei den Pfadfindern (obwohl ich selber nie bei den Pfadfindern war). Es gab Orts- und Kreisgruppen, Gruppenführer und übergeordnete Organisationen. Es gab eine Art Uniform, die kenntlich machte, zu welcher Gruppe man gehörte und welchen Status man innerhalb dieser Gruppe hatte. Das war aber weniger eine Uniform im militärischen Sinne, also nichts Steifes. Sondern mehr so ein Barett-Hut zum Beispiel, Karohemden und kurze Lederhosen.Die Älteren haben sich um die Jüngeren gekümmert und ihnen alles wichtige beigebracht, was es über die Ideale der Gruppe zu lernen gibt. Und natürlich über die Natur und das deutsche Liedgut. So ganz ohne iPods und iPhones, CD-Player und Kassettenspieler, Radios und Fernsehgeräte musste man halt noch selber für Unterhaltung sorgen. Und da war singen am abendlichen Lagerfeuer neben dem Geschichten erzählen und hitziger politischer Debatten eine willkommene Abwechslung.
Wenn man einen Vergleich zur heutigen Zeit ziehen will, dann war die Bündische Jugend das, was für uns gerade Facebook ist. Man sucht sich die Gruppen zu denen man gehören will und verbringt seine Zeit damit, sich innerhalb dieser Gruppen auszutauschen. Im besten Fall trifft man sich im Real Life und besucht gemeinsam irgendwelche Veranstaltungen wie Partys, Konzerte – in letzter Zeit auch ganz gerne mal die ein oder andere Demo. Sowas halt. Nur natürlich weit weniger hierarchisch organisiert als damals. Und im Zweifel mit weniger Bezug zu Natur und selbst produzierter Musik. Vor allem letzteres muss nicht zwingend zu den Minuspunkten gehören …
Aber ich weiche ab. Das wirklich wichtige ist: innerhalb dieser Strukturen der Bündischen Jugend hatte mein Großvater bereits vor 1933 in ziemlich intensives Netzwerk geknüpft. Hier hat er seine Mitstreiter und Unterstützer kennengelernt – sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden. Und hier hat auch die Leserschaft gefunden für die Widerstandsschriften, die er später aus dem Exil in Holland nach Deutschland geschmuggelt hat. Und natürlich haben ihn seine Reisen geprägt. Vor allem auf seiner Reise nach Marokko hat er „den Hunger und die Armut der Besitzlosen“ erlebt, wie mein Vater das beschreibt. Diese soziale Ungerechtigkeit konnte er nur schwer ertragen. Dagegen wollte er was tun. Die Ursache dieses Übels sahen er und einige andere Bündische in der Industrialisierung beziehungsweise im Kapitalismus, der die Reichen reicher und die Armen ärmer macht.
Wer sich politisch intensiver damit auseinandersetzen möchte: nur zu. Es gibt erstaunliche Parallelen zur heutigen Zeit zu entdecken. Leider fehlt mir das dezidierte politische Verständnis, um das bis ins kleinste Detail stichhaltig darlegen zu können. Interessant finde ich die Tatsache, dass man durch und durch Patriot beziehungsweise Nationalist zu sein konnte, ohne dass das irgendeine negative Konnotation zu haben schien. Und spannend finde ich auch, dass in der Bündischen Jugend sehr viele politische Weltanschauungen miteinander im Dialog standen – mal mehr, mal weniger, es gab natürlich auch heftige Auseinandersetzungen darüber. Aber rein gefühlt fand man das damals wohl ganz schick, sich einer Gruppierung mit bestimmten Idealen anzuschließen – oder eben mehreren Idealen – und damit mehreren Bünden, wenn man den Wunsch dazu verspürte. Ich kann mir vorstellen, dass da eine unglaubliche idealistische Dynamik war damals. Aber vielleicht ist auch das auch einfach nur romantisch verklärt. Aber auf jeden Fall ist das der Kreis und die Zeit aus der mein Großvater stammt. Seine Welt – so gut ich sie aus der zeitlichen und geschichtlichen Entfernung eben darstellen kann.
Die Anachronistin gibt es auch als Podcast! Wer also keine Zeit zum Lesen hat, klickt sich einfach in den Podigee MP3-Feed, auch als AAC-Feed, Opus-Feed oder Vorbis-Feed zu haben. Oder ihr abonniert „Die Anachronistin“ einfach bei Apple Podcasts und natürlich im Podcatcher eures Vertrauens.
Weitere Lesungen für 2024 sind ebenfalls in Planung. Anfragen gerne über den Suhrkamp Verlag.