In einem Referat, das ich irgendwo im Netz aufstöbere, entdecke ich Zitate aus Briefen, die mein Opa aus der Haft an seine Familie schreibt. Es ist das erste Mal, dass ich seine Worte lesen kann. Der Inhalt dieser Briefe berührt mich zutiefst.
Es hat lange gedauert, bis ich mich freiwillig mit dem Leben meines Großvaters beschäftigt habe. Einfach, weil es so viel zu leben gab. Als sich meine Eltern im Winter 1997 getrennt haben, habe ich so schnell es geht versucht auf eigenen Füßen zu stehen. Möglichst unabhängig von meinen Eltern zu sein. Weil ich niemandem zur Last fallen wollte – und weil ich niemandem was schulden wollte. Dann kam der Herbst 2005 – mein erster Anlauf auf einen Studienabschluss …
Wenn ich mich recht erinnere war ich auf der Suche nach einem Thema. Und wie das so ist, wenn man ziellos vor sich hin surft in diesen unendlichen Weiten namens WWW – irgendwann landet man auf einer Seite, die mit dem Ausgangspunkt der eigenen Bemühungen genau nichts mehr zu tun hat. Ich bin auf dem Wikipedia-Artikel von meinem Großvater gelandet. Den hab ich so semi-interessiert überflogen. Kenn ich ja alles. Nur ein Link hat mich stutzig gemacht. Der zu einem Referat des Quickborn.
Zum damaligen Zeitpunkt wusste ich nur, dass mein Großvater zwar katholisch war, aber der Kirche als Institution sehr kritisch gegenüber stand. Der Quickborn ist eine Art freiwillige Gemeinschaft von Menschen, die zwar religiös sind, sich aber nicht an schriftlich festgelegte Regeln halten. Sie glauben an die christilichen Werte und sie wollen diese Werte leben. Ich habe mich – bis jetzt – noch nicht näher damit auseinander gesetzt. Aber prinzipiell gefällt mir ein Grundsatz, den die meisten Religionen im übrigen in irgendeiner Form teilen, sehr gut. Der Grundsatz der Nächstenliebe. Unter dieser Prämisse verbietet sich per se jede Form von Hass dem nächsten Gegenüber – egal welcher Religion, Sexualität, Gesinnung, Ethnie, und, und, und er ist. Aber das nur so nebenbei.
Jedenfalls war mein Großvater Teil der Quickborn-Bewegung. Und deshalb hat ein Mann namens Meinulf Barbers im August 2003 ein Referat über meinen Großvater gehalten. 14 klein gedruckte DIN A 4 über das Leben und Wirken von Theo Hespers. Leider ist der Link zu diesem Referat nicht mehr verfügbar, aber ich hab mir damals ein Word-Dokument angelegt und den Text da rein kopiert. Ich könnte eine Menge mehr wissen über meinen Großvater, wenn ich mir dieses Referat nach der ersten Lektüre noch mal durchgelesen hätte. Leider war diese erste Lektüre so unglaublich erschütternd, dass ich tatsächlich bis heute keinen zweiten Blick in dieses Dokument riskiert habe.
Selbst heute, als ich das Dokument nach einem brauchbaren Zitat für das Titelbild durchsucht habe, bin ich nur über die Seiten drübergeflogen. Denn das, was da drin steht, ist einfach unfassbar hart. Ich hab keine Ahnung, wie es auf andere wirkt, aber in diesem Referat sind Briefe meines Großvaters zitiert. Sie stammen aus der Zeit nach seiner Verhaftung. Aus dem Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße 8 in Berlin. Eineinhalb Jahre hat mein Großvater in Isolationshaft verbracht. Wurde verhört, wurde gefoltert. Mein Vater hat mir immer erzählt, dass er in dieser Zeit komplett ergraut ist und auf 45 Kilo abgemagert. Ich weiß nicht, inwiefern das stimmt. Mein Vater war damals ja selber erst zwölf Jahre alt. Aber allein der Gedanke daran, dass ein Familienmitglied derart gefoltert wurde, ist erschütternd.
„Die Fehler der Menschen können mich nicht am Göttlichen irre machen. Wohl sehe ich eine Tragik darin, dass man leiden muß dafür, daß man das Beste gewollt hat, weil die tieferen Beweggründe seiner Handlungen nicht verstanden werden. Aber das ist wohl so, solange die Welt nach menschlichen Gesetzen regiert wird, und dann ist es für einen Christen das Beste, nur durch Selbsterziehung und Dienst an der Gemeinschaft in Pflichterfüllung die Verhältnisse zu bessern.“
(Theo Hespers, Brief an die Mutter vom 21.01.1942)
Natürlich ist im Quickborn-Referat vor allem Thema, wie viel Kraft mein Großvater aus seinem Glauben geschöpft hat. Und ehrlich gesagt: ja, das ist beeindruckend. Ich bin alles andere als gläubig. Aber schon nach den ersten Auszügen aus diesen Briefen, sind bei mir die Tränen gekullert. Ich habe minutenlang regungslos auf den Bildschirm gestarrt, diese Zeilen gelesen und – ich kann es nicht anders sagen – still geflennt. Ich war unfähig mir ein Taschentuch zu besorgen. Ich war komplett unfähig mich zu bewegen. Ich hab einfach den Tisch volltropfen lassen.
„Verzeihe mir liebste Mutter, daß ich Dir soviel Schmerzen mit meinem Schicksal bereite. Aber einmal wird es ja überstanden sein. Ich hatte mir so viel Hoffnungen vom Leben gemacht, soviel Gutes und Schönes wollte ich nach dieser schweren Zeit mithelfen und endlich mal wieder ein voller Mensch sein können.”
(Theo Hespers, Brief an die Mutter vom 06.08.1942)
„Einmal wird es ja überstanden sein…“ – heißt in diesem Fall nicht mehr, als dass mein Großvater mit seinem Tod rechnet. Er weiß es. Er weiß, dass sie ihn umbringen werden. Er weiß nicht wann, er weiß nicht wie, aber seine Tage sind gezählt. Es schmerzt mich körperlich, dass er sich entschuldigt. Er ist sich in vollem Umfang bewusst über das, was er da tut. Er glaubt immer noch daran, dass er auf der richtigen Seite steht. Und oft genug denke ich: ist das Stärke oder ist das Sturheit? Hätte ich das durchgehalten? Würde ich das durchhalten, wenn es darauf ankommt? Und vor allem: das ist nicht die Vergangenheit. Das ist für Menschen in einigen Ländern dieser Erde das Hier und Jetzt. Das ist Realität. Das ist nur ein Schicksal von vielen. Und wie schlimm, dass es viele sind – noch immer. Nicht weit von uns. Auf diesem Kontinent.
Aber das, was mich wirklich zerstört hat, war dieser Satz. Ich weiß, dass ich das Referat zu Ende gelesen hab. Ich kann mich an keine Zeile erinnern. Nicht ein Wort. Auch an dieses Zitat konnte ich mich nicht mehr erinnern. Aber als ich es eben gelesen habe, wusste ich: dieser Satz hat mir das Herz gebrochen. Drei Tage lang war ich gefangen in einem Alptraum. Ich weiß, dass draußen die Sonne geschienen hat – aber innerlich habe ich Trauer getragen. Weil er Recht hatte. Wir leben glücklich, friedlich, gesättigt und froh. Wir leben – aber er, der dafür gekämpft hat, er lebt nicht. Er hat nicht im Ansatz erlebt, dass sich seine Träume und Wünsche erfüllt haben:
„Aber einmal wird ja alles vorbei sein und auch für mich Friede sein. Ihr werdet, hoffe ich, noch einmal die neue schöne Zeit erleben, nach der ich mich immer sehnte, in einem glücklichen Volk, friedlich, gesättigt und froh leben. Ich wünsche es allen Menschen!“
(Theo Hespers, Brief an die Familie vom 13.08.1942)
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