Bereits vor 1933 engagiert sich Theo Hespers gegen die NSDAP. Es ist augerechnet seine katholische Erziehung, die ihn zum Gegner der Nazis macht. Denn er erkennt früh, dass die Ziele der Nationalsozialisten mit seinen christlichen Werten nicht übereinstimmen. Weil mein Großvater versucht, sich vor allem mit politischem Engagement gegen den Einfluss der Nazis zu stellen, gerät er bereits zu Beginn der NS-Diktatur ins Visier der Gestapo.
So seltsam das klingt, aber gerade seine christliche Überzeugung ist meinem Großvater zum Verhängnis geworden. Er ist in einer katholischen Familie groß geworden, mit einem Onkel als Priester und einer Tante als Nonne. Theo Hespers war es nicht genug zu glauben. Er wollte leben, woran er glaubte. Kaum etwas ist dabei für die Nazis so gefährlich gewesen, wie der Glaube an die Nächstenliebe.
Mein Großvater hat sich schon früh politisch engagiert, geleitet von christilichen Idealen. Mit 22 Jahren wurde er Mitglied der christlich-sozialen Bewegung (Vitus-Heller-Bewegung) aus der später die Christlich-Soziale Reichspartei (CSRP) hervorging. Eine „radikal-pazifistische Partei“ – so steht es bei Wikipedia. Von 1928 – 1932 hat sich mein Großvater sehr intensiv für diese Partei engagiert. Dann ist er ausgetreten. Weil sich die Partei nicht entschieden genug gegen die aufziehende Gefahr positioniert hat – die NSDAP. Wie genau er das damals schon formulieren konnte, weiß ich nicht. Aber zurückschauend schrieb er:
„Wir sahen, dass die Vertreter des Sozialismus sich nicht entschieden für eine soziale Neuordnung einsetzten, dass die Vertreter des Nationalismus nicht das Wohl des Volkes und der Nation, sondern egoistische Ziele im Auge hatten, dass die Vertreter des Katholizismus nicht die Weite zeigten, die der Weltkirche ansteht, dass die Vertreter des Christentums mit der Nächstenliebe nicht ernst machten.“
(Theo Hespers, Jahr unbekannt, Quelle: Quickborn-Referat von Meinulf Barbers)
Es gehört schon eine ordentliche Portion Idealismus dazu, den „Vertretern der Christen“ vorzuwerfen, das Gebot der Nächstenliebe nicht zu leben. Und doch ist genau das eines der Phänomene, die ich nicht verstehe. 2013 zählte die römisch-katholische Kirche knapp 30 Prozent der deutschen Bevölkerung zu ihren Mitgliedern. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts waren das noch deutlich mehr. Aber selbst, wenn schon damals nur jeder Dritte Anhänger der katholischen Kirche gewesen ist. Wie kann man gleichzeitig an das Gebot der Nächstenliebe glauben und sich auf der anderen Seite derart gegen andere Bevölkerungsgruppen richten? Man muss kein strenggläubiger Katholik sein, um zu wissen, dass sich Nationalsozialismus und die Gebote der katholischen Kirche oder auch der Bibel nicht miteinander vertragen. Das ist nicht als Kritik an Religion an sich gemeint. Jeder soll glauben was und woran er mag. Aber die Augen offen halten und den Kopf einschalten – und hin und wieder das hinterfragen, was um ihn herum geschieht. Aber zurück zu meinem Großvater.
Weil ihm der Einsatz der CSRP für Frieden und soziale Gerechtigkeit nicht weit genug ging, orientierte sich mein Großvater noch ein Stück weiter links und war deshalb von 1931-1933 für die „Rote Gewerkschaftsorganisation“ aktiv. 1933 ließ er sich auf die „Einheitsliste der Arbeiter und Bauern“ schreiben und kandidierte für die Reichstagswahlen und für die Stadtverordnetenversammlung. Die Reichstagswahlen sollten am 05. März 1933 stattfinden. Eine Woche davor hatte die Hitler-Regierung eine „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“ und „gegen den Verrat am deutschen Volk und hochverräterische Umtriebe erlassen.“ Die Kandidatur meines Großvaters fiel unter diese Notverordnung. Es wurde Haftbefehlt gegen Theo Hespers erlassen. Im Referat von Meinulf Barbers heißt es dazu:
„Auf Grund dieser Notverordnung sollte auch Theo Hespers verhaftet werden. Durch einen Freund gewarnt, dass die politische Polizei ihn verhaften wolle, (sie hatte das Haus mit Scheinwerfern umstellt, die Bewohner mussten stundenlang mit erhobenen Händen an der Wand stehen) ging er nicht nach Haus, sondern floh im April 1933 in die Niederlande.“
Aus dem Quickborn-Referat von Meinulf Barbers
Soweit zu den Fakten der Geschichte und den Umständen die zu folgender Erzählung meines Vaters führen:
Mitten in der Nacht stürmt ein Trupp aus sechs Gestapo-Schergen das Haus der Familie Hespers* in Mönchengladbach. Sie pochen an die Fensterläden und Türen. Nur mit einem Nachthemd bekleidet öffnet meine Großmutter, Käthchen, die Tür. Die Männer schieben die kleine Frau schroff zur Seite und stürmen die Holztreppen hoch ins Schlafzimmer der Eheleute Hespers. Sie nehmen das komplette Schlafzimmer auseinander, zerrupfen die Federbetten, leeren die Kommoden auf den Holzfußboden, reißen die Kleider aus den Schränken. Nirgends eine Spur von meinem Großvater. Der Rest der Hausbewohner ist inzwischen auch auf den Beinen.
Meine Oma weint leise als neben ihr plötzlich ihr Bruder Johannes auftaucht – ein stadtbekannter Schläger, der gerne Streit in der Altstadt von Mönchengladbach sucht. Seine Mutter, Mariechen Kelz, ist ebenfalls dabei, außerdem noch Willi – ein weiterer Bruder meiner Oma und seine Frau. Und während der Rest sich eingeschüchtert aneinander drängt, kann der Altstadtschläger seine Impulse kaum zurückhalten. Ein Mann mit braunem Ledermantel und Pepitahütchen betritt die Szene. Er lässt sein R gefährlich hinter den Zähnen rollen, als er der Familie befiehlt: „An die Wand mit euch, ihr rotes Gesindel!“. Und damit niemand auf dumme Gedanken kommt, hält er seine Pistole auf Johannes gerichtet.
Leider beeindruckt das Johannes nur wenig. Obwohl seine Mutter Mriechen noch versucht ihn zurückzuhalten geht er auf den Mann mit der Pistole los. Der Schlag eines stiernackigen Gestapo-Schergen streckt ihn nieder. Während der Rest der Familie mit erhobenen Händen an der Wand steht, durchwühlen die Männer der Gestapo weiter die Zimmer. Aber sie finden nichts. Meinen Großvater nicht. Und auch nicht die von ihm herausgegebenen Flugblätter. Da tappst plötzlich ein kleiner Junge mit wirren blonden Locken in den Flur. Nur etwas älter als zwei Jahre.
Er tapst auf seine Mutter zu, die immer noch mit erhobenen Händen dasteht und die Wand anstarrt: „Mama, was sind das für Onkels? Sind die böse?“. Meine Oma nimmt eine Hand von der Wand und streichelt meinem Vater über den Kopf. In den Augen des Mannes mit dem braunen Ledermantel und dem seltsamen Hut blitzt es gefährlich. Er geht zu dem kleinen Jungen, beugt sich herunter und fragt mit zuckersüßer Stimme: „Mein süßer kleiner, blonder Lockenschopf, wo ist denn dein Vater?“
Die Antwort folgt so prompt wie überzeugend: „In Spanien!“ Das will der Gestapo-Scherge mit dem rollenden R natürlich genauer wissen. Und beugt sich etwas näher zu dem Kind und fragt: „Was tut er denn dort, mein liebes Kerlchen?“ – „Isst Äpfel, Nüss, Kastanien!“ brabbelt mein Vater fröhlich, weil sein Onkel Johannes ihm das ein ums andere Mal eingebläut hat. Und da steht er nun, der Gestapo-Mann mit seiner Waffe. Bloßgestellt von einem Zweijährigen. Der Rest der Familie immer noch mit erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand. Um die Schande nicht länger ertragen zu müssen, macht das rollende R auf dem Absatz kehrt und marschiert aus dem Haus – nicht ohne sich noch mal den Kopf am Querbalken über der Tür zu stoßen und seinen Pepitahut zu verlieren. Er wird ihn nicht aufheben. Als sich die Tür hinter dem letzten Nazischergen schließt, bricht die Familie in schallendes Gelächter aus.
Ob die Geschichte so wirklich stimmt? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Meine Oma hat sie so erzählt. Aber die kann ich nicht mehr fragen. Mein Vater hat sie so behalten und in seinem Buch „Rot Mof“ niedergeschrieben – ein Buch mit Erinnerungsfragmenten aus der Zeit im Exil. Eine ISBN-Nummer kann ich euch nicht nennen. Mein Vater hat alles im Eigenverlag herausgegeben – weil niemand seine Geschichten kaufen wollte. Aber ich werde ihn noch mal fragen. Morgen, am 2. Weihnachtstag, bin ich mit ihm verabredet. In diesem Sinne: Frohe Weihnachten euch allen!
*Nachtrag am 29.12.2014:
Das Haus der Familie Hespers ist in dem Fall das Haus von Käthchens Eltern, indem das Ehepaar gewohnt hat. Von seiner Arbeitsstelle als Kaufmann musste mein Großvater über einen kleinen Hügel gehen. Auf dem Weg lag auch ein kleines Häuschen, in dem der Kommunist Janse Hennes wohnte. Ein Freund meines Großvaters Theo (der im Plattdeutschen übrigens „Döres“ genannt wurde) und der Schlägerkumpan von Johannes. Janse Hennes jedenfalls war es, der meinen Großvater gewarnt hat. Er hatte von weitem gesehen, dass die Gestapo das Haus umstellt hatte. Daraufhin hat mein Großvater auf dem Absatz kehrt gemacht und ist in sein zwanzig Minuten entferntes Elternhaus gelaufen, wo er bereits für den Fall der Fälle seinen Pass deponiert hatte. In einem Buch über meinen Großvater, das von der Gladbacher Bank herausgegeben wurde steht, dass Theo Hespers drei Tage nach diesem Vorfall in die Niederlande geflohen sei. Mein Vater widerspricht der Version. Seiner Meinung nach muss mein Großvater noch in der Nacht ins Kloster Mariendahl hinter der holländischen Grenze geflohen sein.
Theo Hespers – mein Opa (flüchtig)
Käthchen Hespers – meine Oma
Dietrich Hespers – mein Vater
Johannes Kelz – Bruder meiner Oma
Willi Kelz – Bruder meiner Oma
Mariechen Kelz – Mutter meiner Oma
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