Es ist immer wieder erschreckend, wie viele Parallelen zur Gegenwart ich in den Unterlagen meines Großvaters finde. Zugegeben, den Artikel aus der Kameradschaft, den ich euch heute vorstellen möchte, habe ich schon Mitte Januar gelesen. Aber ich hätte nicht für möglich gehalten, dass er ausgerechnet heute so gut passt.
Es ist immer wieder erschreckend, wie viele Parallelen zur Gegenwart ich in den Unterlagen meines Großvaters finde. Zugegeben, den Artikel aus der Kameradschaft, den ich euch heute vorstellen möchte, habe ich schon Mitte Januar gelesen. Aber ich hätte nicht für möglich gehalten, dass er ausgerechnet heute so gut passt.
Aktuell ist die rechtsgerichtete AfD in Syrien unterwegs. Genauer gesagt in Damaskus. Von dort twittern sie Bilder von einer heilen, modernen Welt, in der es den Menschen gut geht. Gleichzeitig wird immer wieder betont, dass Syrien sicher genug sei, um die Geflüchteten zurück zu schicken. Das ist – gelinde gesagt – zynisch. Denn Krieg ist nie flächendeckend. Es gibt immer auch Orte, die „sicher“ sind, solange man das Spiel der machthabenden Regierung mitspielt. Das war auch im Zweiten Weltkrieg so. Es gab Orte in Deutschland, in denen keine Bombe fiel. In denen nichts zerstört wurde. Das waren übrigens die Orte, in die dann Kinder geschickt wurden, um sie vor außer Gefahr zu bringen. Diese Orte gibt es immer. Und oft ist es gar nicht so leicht herauszufinden, was wirklich in einem Land vor sich geht. Erst recht nicht, wenn die Reise von der machthabenden Regierung „gesponsort“ wird.
Denn natürlich fahren sie die AfD-Delegation nicht nach Ost-Ghouta. In die Stadt, in der schwerste Kämpfe toben. Welches Land, welcher Machthaber zeigt schon stolz: „Hier: Und das haben wir alles platt bombardiert und dem Erdboden gleich gemacht. Eine Fläche von xyz Fußballfeldern. Nix mehr da! Hier lebt keine Maus mehr! Ups, kommen sie schnell hier rüber, da knattert grad einer unserer verbündeten Kampfbomber rum, noch ein paar Rebellen kaputtballern. Entschudligung, aber die sind nicht so treffsicher. Könnte gefährlich werden.“ Klingt unlogisch? Ist es auch. Mit organisierter Massenvernichtung lässt sich einfach schlecht prahlen.
Aber wagen wir einen Blick zurück ins Jahr 1937. Damals herrschte zwar noch kein Krieg in Deutschland. Aber das NS-Regime verschärfte seine Verfolgungsmaßnahmen massiv. Nicht nur gegen Juden. Auch Kommunisten und Gewerkschaftler wurden vehement weiter bekämpft. Außerdem ging das Regime immer härter gegen Katholiken und Protestanten vor, die sich nicht linientreu zeigten oder ihren Glauben allzu offen lebten. So wurden zum Beispiel im Januar 1937 von der bayerischen Landesregierung alle Lehrer entlassen, die katholischen Glaubens waren. Begründung: Es könne keine Lehrtätigkeit im nationalsozialistischen Sinne gewährleistet werden.
Aber was von alledem bekommt ein ausländischer Besucher mit, der durch Deutschland reist? Wie offensichtlich ist die Verfolgung? Darüber schreibt ein belgischer Pfarrer in der zweiten Ausgabe der Widerstandszeitschrift „Die Kameradschaft“, die im Dezember 1937 erscheint. Der erste Absatz im Artikel mit dem Titel „Ein belgischer Pfarrer erlebt den Kirchenkampf“ lautet:
„Sie können lange durch Deutschland reisen, ohne sich über die dramatische Situation klarzuwerden, in der unsere katholischen Brüder dort leben. Der Kult wird dem Anschein nach in aller Freiheit weiter ausgeübt. Der ausländische Geistliche kann sich über die Haltung, die ihm gegenüber eingenommen wird, nicht beklagen. Selbst nicht über die Beamten, die sich höflich zeigen. Wenn man ihn als Fremden erkennt, verwandelt sich die Höflichkeit sogar in Unterwürfigkeit.“
Aus: Kameradschaft Ausg. 2, Dezember 1937, S. 34
Und so ist es wahrscheinlich überall, wo man „mal eben“ nach dem Rechten sehen will. Es ist ja nicht so, dass der Alltag plötzlich aufhört und überall blinkende Leuchtpfeile darauf hinweisen, das hier Unrecht geschieht. Und natürlich versuchen deutsche NS-Beamte einem Ausländer gegenüber ein möglichst positives Bild abzugeben. Schließlich möchte man vom Ausland so lange wie möglich in Ruhe gelassen werden. Nicht auszudenken, wenn dort die Gefahr erkannt wird und plötzlich jemand auf die Idee kommt zu handeln! Wobei: Selbst dann, wenn wir – das Ausland – Zeugen schrecklicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden, schaffen wir es ja, uns rauszuhalten. Eben so lange wir nicht persönlich betroffen sind.
Trotzdem wird natürlich unser belgischer Pfarrer bald Zeuge, dass irgendetwas faul ist. Und auf einen Beleg dafür lässt er seine Leser nicht lange warten:
„Aber als ich mich eines Tages mit einem Laienhelfer, den ich mit gutem Grund nicht näher bezeichnen kann, unterhielt, sah ich meinen Gesprächspartner, den ich über die religiöse Situation befragte, zum Fenster gehen, und es sorgfältig schließen. Dann setzte er sich bedächtig und begann mit einer leicht gedämpften Stimme mir zu antworten. Ich konnte mein Erstaunen nicht verbergen. Es war an diesem Tag eine tropische Hitze und die Geste des Fensterschliessens schien mir ungewöhnlich.
Mein Gesprächspartner lächelte: «Ich habe nichts dagegen in’s Gefängnis zu gehen. Aber da ich ernste Verantwortlichkeiten trage, möchte ich es so spät wie möglich tun.»
«Wie?» – fragte ich verdutzt – «aber hier in diesem Hause?» «Ja, in diesem Hause. Ich traue allen, aber ich möchte doch das Fenster geschlossen halten, wenn es Sie nicht zu sehr stört.» An diesem Tage habe ich den ganzen Wert der Freiheit besser verstanden“
Aus: Kameradschaft Ausg. 2, Dezember 1937, S. 34
Allein dieser Abschnitt reicht mir persönlich, um eine tiefe Trauer zu empfinden. Die Angst, überwacht zu werden. Die Angst, dafür bestraft zu werden, dass man einfach nur seine Religion ausübt. Dazu – und das betone ich hier an dieser Stelle gerne noch mal – gehört in KEINER der Weltreligionen das Töten und Abschlachten von Mitmenschen. Dort, wo im Namen irgendeines Gottes Menschen getötet werden, wird Religion nicht ausgeübt, sondern missbraucht. Und das perfide an der Nummer ist – in Bezug auf die Unterdrückung der Katholiken im Dritten Reich -, dass die Nazis es als gefährlich ansahen, dass Nächstenliebe gepredigt wurde. Liebe! Denn dann könnte man ja auf die Idee kommen, dass auch die Juden zu den Nächsten gehören, die man lieben soll. Ja, die verrückten Katholen predigen ja sogar, dass man seine Feinde lieben soll! Nicht auszudenken. In den Augen der Nazis ein fast terroristischer Akt. Übrigens ja auch heute noch, wenn man sich anhört, wie man für das Praktizieren von Nächstenliebe beschimpft wird – egal ob religiös oder moralisch motiviert. Das sind nämlich die „bösen Gutmenschen“ – klingt paradox? Tja, war – und ist – aber Realität.
Eine Realität, die im Nazideutschland von 1937 so aussah:
„Hier ist ein Auszug aus einer Rede, die der Kölner Gebietsführer bei eine Jugendtag während unserer Durchreise gehalten hat. Der Text ist der «Kölnischen Volkszeitung» entnommen, der katholischen Zeitung Kölns, die gezwungen ist, den Bericht zu veröffentlichen […].
«Eurem Volke dienen» – sagte dieser mann, der sich an zehntausende katholischer Kinder und an deren Eltern wandte – «heißt Gott dienen. Nur der kann von sich behaupten, dass er Religion hat, der zuerst seinem Volke gehört, diesem Volke, in dessen Mitte Gott Euch durch Eure Mutter gestellt hat. Wer seinem Volk dienen will, muss zuerst Adolf Hitler dienen. Ihr müsst Euch immer so betragen, als sei der Führer neben jedem Einzelnen von Euch. (Ungefähr das Gleiche, was wir den Christen von Christus sagen.) Niemand wird je von Euch die Kühnheit haben, das Denken des Führer zu kritisieren, und wenn irgend einer es doch wagen sollte, so würdet Ihr ihm zurufen: «Du lügst, denn der Führer hat immer Recht».
Diese Rede bedarf keines Kommentars. Man sieht den verfänglichen Weg, der die kleinen Gläubigen von ihrer Religion zu der der Rasse und von der Rassenreligion zur Vergöttlichung des Führer führt.“
Aus der heutigen Perspektive betrachtet ist das massiv verstörend. Aber auch 1937 hat das für Bestürzung gesorgt. Der belgische Pfarrer ist aber weniger bestürzt über die aus der NS-Ideologie erwartbare Rede. Nein, er findet etwas ganz anderes als sehr befremdlich:
„Man kann Kindern erzählen, was man will, wenn man es nur geschickt anfängt: aber was uns verblüfft, ist die Geduld der Eltern. Offen gesagt, denken Sie nicht, dass, wenn man eine solche Rede vor unseren Volksmassen hielt, dass ein ungeheueres Gelächter und eine unbändige Lustigkeit aus den gepressten Reihen unseres guten Volkes aufsteigen würde? Dort empfängt respektvolles Schweigen solche Flausen. Die Furcht? …“
Aus Kameradschaft, Ausg. 2 | Dezember 1937, S. 35
Das Bittere an der Geschichte: Die Belgier haben nicht gelacht ob dieser Reden. Als die Nazis im Mai 1940 in die Niederlande und Belgien einmarschieren, haben sie dort bereits viele, viele Fans, die sie begeistert unterstützen.
Der belgische Priester aber glaubt, dass die Katholiken in Belgien quasi geimpft seien gegen braunes Gedankengut. Weil es dort die Frühkommunion gibt. Und er stellt in diesem Artikel die Frage danach, ob diese Frühkommunion nicht vielleicht hätte verhindern können, dass so viele Jugendliche sich zur HJ (Hitlerjugend) „bekehren“ lassen. Ich würde zu gerne wissen, wie er die Dinge dann später beurteilt hat. Aber das wäre auch irgendwie müßig.
Im Verlauf des Artikels forscht der belgische Priester weiter nach Anzeichen für die Unterdrückung seiner Glaubensbrüder und -schwestern. Was er beobachtet, ist vor allem unterschwellig:
„Ich habe viele Priester aus dem Westen Deutschlands befragt. Alle erklärten mir, dass sie sich nicht über persönliche Beleidigungen in der Oeffentlichkeit zu beklagen hätten. Aber einer von ihnen erklärte: «Wir sind auf Pulver».
Und in der Tat, offen begehen die Mitglieder der N.S.D.A.P. gemäss einer erlassenen Verordnung keine Tätlichkeiten oder direkte Beleidigungen. Nur in gewissen hasserfüllten oder frechen Blicken findet die Feindschaft ihren Ausdruck. Aber man hat doch den bestimmten Eindruck, dass ein Signal genügt, damit die Katholiken behandelt werden wie eben erst die Juden.
Werden sie es sich gefallen lassen? Sie scheinen äusserst ruhig. «Aber es kocht» sagte jemand, der ziemlich gut unterrichtet zu sein schien. Vielleicht, aber auf jeden Fall merkt der Ausländer davon nichts. Hier und da haben Demonstrationen stattgefunden. Aber unter einer autoritären Herrschaft sind sie fast immer zu sofortigem Scheitern und zu grausamen Folgen verurteilt.“
Aus Kameradschaft, Ausg. 2 | Dezember 1937, S. 36
Was den belgischen Priester vor allem wundert ist, wie zurückhaltend die Menschen mit denen er spricht, das NS-Regime beurteilen:
„Die Pfarrer, die das Gewicht der Verantwortung tragen, scheinen äusserst still. Vielleicht verrät diese überlegen Art, den Ereignissen entgegenzusehen, eine Festigkeit, die einen unerschütterlichen Widerstand voraussehen lässt. Aber der Belgier kann nicht umhin über die unglaubliche Reserve beim Gebrauch der Termini erstaunt zu sein, wenn es sich darum handelt ,die Staatsmacht zu beurteilen.
«Man stellt uns Katholiken als schlechte Deutsche hin», sagte mir ein Laienhelfer, «aber wir können doch die Haltung der Regierung nicht gutheissen».
Man fühlte durch diese so gemässigte Beurteilung so etwas wie ein Bedauern und den Rest eines Zögerns hindurch. Für die Deutschen bleibt die Behörde immer mit einem unglaublichen Prestige umgeben. Die Führung bleibt die Führung und die Fügsamkeit der Bürger ist eine Fügsamkeit von Untertanen.
Daran dachte ich in Köln, während des Parteitages. Die ganze Stadt war ein Flaggenmeer. Nur der Dom stand da, dunkel und unbeweglich, ohne eine einzige Oriflamme. Ich wunderte mich über die Einheitlichkeit dieser Beflaggung, «Ihr seid also alle einverstanden?» Die Katholiken, die ich befragte, lachten hell auf: «Aber wir müssen.»“
Aus Kameradschaft, Ausg. 2 | Dezember 1937, S. 37
Der belgische Pfarrer wundert sich, wie langsam die Deutschen zu begreifen scheinen. Wie wenige überhaupt ihre Schlüsse ziehen aus dem, was dort vor sich geht. Er begreift nicht, dass niemand handelt, dass es nicht einen großen Aufruhr gibt. Die Antwort darauf erhält er prompt:
„«Ich möchte Euch an unserer Stelle sehen», sagte mir ein Katholik. «Die Geheimpolizei ist absoluter Herr. Für ein ja oder nein, und für noch weniger, wird man verhaftet und verschwindet. Ohne Untersuchung, ohne Urteil, ohne irgend eine Einspruchsmöglichkeit. Die Gestapo ist eine dunkle und ungreifbare Macht. Und das Konzentrationslager oder Gefängnis, mein Lieber …»“
Aus Kameradschaft, Ausg. 2 | Dezember 1937, S. 38
Sein Fazit ist entsprechend ernüchternd:
„Es bleibt, dass der Ausländer den Eindruck des Herumtappens mitnimmt. Man sucht und weiss noch nicht, was man wird tun müssen. Besonders scheint man nicht sehr zu überlegen. Ich habe sehr wenig Schlüsse aus den Ereignissen ziehen hören. Aber wo überlegt man überhaupt noch? Man handelt. Und dann hat man an dem Tag, an dem alls zusammenstürzt, die Gewohnheit des Denkens verloren.“
Aus Kameradschaft, Ausg. 2 | Dezember 1937, S. 38
(Wir drucken diese aus dem französischen übertragenen aufschlussreichen Ausführungen mit Erlaubnis des Verfassers ab aus «La Cité Chrétienne», Nr. 260, 20-10-38: Dives. – Imprssions d’Allemagne»)
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Beschämend. Ich muss darüber nachdenken. Vielen Dank, Nora.
Danke, dass du dich davon zum Nachdenken bringen lässt, liebe Lydia!