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Episode 41

„Schlimmer als ein Pogrom“

Im Dezember 1938 veröffentlicht mein Großvater in der Widerstandszeitschrift „Die Kameradschaft“ einen Augenzeugenbericht der Novemberpogrome. Die Ereignisse werden darin als „schlimmer als ein Pogrom“ bezeichnet.

Titelseite der Dezember-Ausgabe 1938 von "Die Kameradschaft" mit dem Artikel "Der 'Friede'"

Am 9. November 1938 fällt auch die letzte Maske der grausamen Nazi-Diktatur. Ungefähr 30.000 Juden werden allein um den 10. November 1938 gefangen genommen und in Konzentrationslager transportiert. 400 werden ermordet oder in den Suizid getrieben.

Die Zeit rennt. Und ich komme nicht hinterher mit lesen, schreiben, vertonen. Aber den 9. November wollte ich nicht unkommentiert lassen. Eigentlich fehlen noch drei Ausgaben der „Kameradschaft“ in diesem Blog. Ich habe nur ein paar Texte angelesen. Aber eins fällt deutlich auf: Neben dem Layout verändert sich auch der Ton in den Artikeln. Mit der Eingliederung und Gleichschaltung Österreichs in das nationalsozialistische Deutsche Reich wächst die Empörung der deutschen Exilanten um meinen Großvater herum über das, was in der Heimat geschieht. Selten habe ich zuvor so deutliche Worte gelesen wie diese hier:

„Österreich ist « gleichgeschaltet ». Bitteres Elend erwartet Hunderttausende. Die letzten Wochen haben lange Totenlisten gebracht! Neue Verbrechen drohen. Wer ist noch sicher? Wie heisst das nächste Opfer?“

Aus: Die Kameradschaft, Heft 6/7, April/Mai 1938, S. 125

Oder:

„Indessen marschiert die S.A. Die Politik aus dem Kniegelenk feiert Triumpfe. Sie leitet ein neues, ein «heroisches» Zeitalter ein …
“

Aus: Die Kameradschaft, Heft 6/7, April/Mai 1938, S. 125

Und weiter heißt es:

„Es ist der totale Diktatur-Staat. Der Staat als Selbstzweck und Endzweck, der das Lebensrecht des Einzelnen im eigenen Staat und das Lebensrecht der Völker neben ihm bestreitet. Er leugnet nach innen und aussen die Gleichheit dessen, was Menschenantlitz trägt. Sein Rechtsgrundsatz heißt:

Recht ist, was uns nützt. […]

Das also ist das Ideal, dem wir uns freiwillig oder gezwungen unterwerfen sollen: Allmacht einer Staatsbürokratie, deren Evangelium in des Wortes hässlichster Bedeutung Deutschland «über alles» heißt.“

Aus: Die Kameradschaft, Heft 6/7, April/Mai 1938, S. 126

Das ist natürlich nur die Quintessenz aus einem längeren Artikel aus der Ausgabe April/Mai 1938 der Kameradschaft. Aber ich finde, hier wird ziemlich deutlich, dass sich der Ton deutlich verschärft. Und ein letztes Zitat möchte ich euch auch nicht vorenthalten:

„Wem der Stacheldraht am Horizont ein Trost in seiner Lebensangst ist,
wem die uniformierte Mittelmässigkeit auf Ministersesseln anbetungswürdig erscheint,
wem das Denken ein lästiges Übel ist:
Der mag sich dem totalen «Führer»-Staat anschliessen. Er gehört in dieses Lager.

Wir anderen aber sagen Nein, tausendmal Nein!

Aus: Die Kameradschaft, Heft 6/7, April/Mai 1938, S. 127

Wir heute wissen, was da kommen wird. Im Frühjahr 1938 werden sie eine Ahnung gehabt haben. Aus dem Heute betrachtet sind das verzweifelte Appelle, die da aus Amsterdam ihren Weg in die Welt finden. Sie sind völlig handlungsunfähig und müssen zusehen, was in ihrer Heimat passiert. Alles, was sie tun können, ist aufrütteln und aufklären. Hoffen, dass irgendwer diese Appelle ernst nimmt und daraus eine Handlungsmotivation ableitet. Aber was wäre die Alternative? Aufgeben?

Kennst du den Frieden?

Ich würde so gerne mit meinem Großvater sprechen. Würde so gerne wissen, was sie damals gedacht haben, als sie von den Grausamkeiten erfahren haben, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 an den Juden verübt wurden. Alles, was ich dazu habe, ist ein Artikel in der Dezemberausgabe der „Kameradschaft“.

Es ist nicht der erste Artikel in dieser Ausgabe. Der erste Artikel trägt die Überschrift Der „Friede“ – und beginnt mit folgenden Worten:

„Kennst Du den ‘Frieden‘, den langsam hinmordenden Nichtkrieg? Kennst du die Friedhofsruhe in den nationalsozialistisch ‚erwachten‘ Ländern? Kennst Du die Angst, die Angst der Menschen vor den ‚Menschen‘?“

Aus: Die Kameradschaft, Heft 12, Dezember 1938, S. 221

Auf diese und weitere Texte werde ich in späteren Folge eingehen. Denn heute ist der 9. November – und ich möchte mit euch auf den Artikel schauen, der in der „Kameradschaft“ dazu erschienen ist. An dieser Stelle gibt’s übrigens die kommentierte Version. Den kompletten Artikel ohne Kommentar findet ihr am Ende dieses Blogeintrags.

Die Novemberpogrome

Heute sprechen wir von „Novemberpogromen“ oder „Reichspogromnacht“. In dem Artikel und dem Augenzeugenbericht gibt es noch kein Wort dafür. Dort ist von „Pogrom“ die Rede. Aber die Verfasser sind sich einig, dass dieses Wort sogar noch verharmlost, was wirklich passiert ist. Sie schreiben:

„Die ganze Welt ist tief erregt über das, was in Deutschland geschieht. Das Wort ‚Pogrom‘ ist in aller Mund. Man glaubt, damit die Ausschreitungen als besonders barbarisch zu kennzeichnen. Aber man erkennt nicht, dass das, was da geschehen ist, schlimmer ist als ein Pogrom.“

Aus: Die Kameradschaft, Heft 12, Dezember 1938, S. 234

Denn Pogrome, so die Verfasser, seien Affekthandlungen. Und sie seien Einzelhandlungen, die nur an einer Stelle vorkommen. Was aber in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 passiert, geschieht nicht im Affekt. Im Gegenteil. Im Artikel heißt es dazu:

„Die Aktionen in Deutschland wurden nicht von sinnlosen Volksmassen ausgeführt. Sie waren kalt berechnet, und planmässig organisiert. […] Sie sind kein Ergebnis des „Volkszornes“. Die Menschen waren zur Ausführung befohlen, die Häuser listenmässig bezeichnet. Die Zahl der „Stürmer“, etwa 15 für jedes Haus, waren vorher ausgesucht und bestimmt. Die Aktionen setzten zur gleichen Stunde ein, sie erfassten jede Stadt, es wurde jedes Geschäft zerstört, fast jede Privatwohnung heimgesucht, es wurde jede Synagoge, sogar jedes kleinste Gebetshaus angezündet. Fast alle Männer zwischen 17 und 70 Jahren wurden verhaftet. Man brachte „sachgemässes“ Werkzeug mit.“

Aus: Die Kameradschaft, Heft 12, Dezember 1938, S. 234

Was ich an der Stelle interessant finde ist, dass im Folgenden der Blick nicht auf den jüdischen Opfern bleibt. Der Blick schwenkt um. Schwenkt auf diejenigen, die zugeschaut haben. Und diejenigen, die gezwungen sind an der Ausführung mitzuwirken. Und ja, das klingt in unseren Ohren heute lächerlich. Und absurd. Und marginalisierend in Bezug auf das, was den Juden angetan wurde – und was das am Ende bedeutete. Nämlich dass Millionen Menschen allein deshalb vergast wurden, weil sie jüdischen Glaubens waren.

Aber vielleicht müssen wir das aus der Zeit heraus lesen. Auch wenn es mir schwer fällt. Es heißt also weiter:

„Die S.A. Männer taten alles befehlsgemäss. Gewiss, es ist mancher Rohling dabei gewesen, dem die Zerstörung Freude machte. Aber von selbst hätte auch er es nicht getan, und man täusche sich nicht, es ist mancher in der S.A., der drin sein muss, der nicht mehr herauskann. Und mancher brave Familienvater, mancher Arbeiter wurde nachts aus dem Bett durch Befehl geholt und tat widerwillig, was er verabscheute, aber zu verweigern nicht wagen durfte. Es waren keine Affekthandlungen, sondern ausgeführte Befehle.
Bei Pogromen ist es vorgekommen, dass sich den sinnlosen Zerstörungen Vernunft entgegenstellte, dass Menschen schützend, abwehrend eingreifen konnten. Hier war das unmöglich. Weder Mitleid noch Abwehr noch Abscheu durften sich melden. Tatenlos, machtlos, geknebelt musste der Anständige, der Gutwillige dabei stehen. Was im Menschen zerstört wird, der so zusehen muss, ist unausdenkbar.“

Aus: Die Kameradschaft, Heft 12, Dezember 1938, S. 234f

Für mich liest sich das wie der Plan eines grausamen Sadisten. Es sollen nicht nur Juden massenweise erniedrigt, zerstört und in Vernichtungslager transportiert werden. Der Vernichtungswille ist noch viel größer. Es solle in Exempel statuiert werden. Es ist ein Feldzug gegen das Gewissen. Gegen mögliche Widerstände. Ein Machtspiel, dass auch dem letzten zeigen soll: DU kommst hier nicht raus. Wir können DICH ebenso leicht zerstören, wie wir sie zerstören.

Eine Frage der Identität?

Und vielleicht dürfen wir an der Stelle auch nicht vergessen, welche Nachwehen es noch aus dem Ersten Weltkrieg gab. Dass viele der Männer bereits mit Tod und Zerstörung konfrontiert waren. Dass sie schon mal auf der Seite der Verlierer gestanden haben. Dass sie es gewohnt waren, Befehlen zu folgen ohne ihr Gewissen dazwischen zu schalten. Soldaten werden genau darauf trainiert. Das soll nicht entschuldigen, was getan wurde. Aber ich kann nur aus dem Heute urteilen. Ich habe nicht in dieser Zeit gelebt. Ich kann niemanden mehr fragen, der bereits den Ersten Weltkrieg erlebt hat. Ich kenne niemanden, der sich mir als Täter zu erkennen gegeben hätte. Ich will einfach verstehen.

Verstehen, wie es zu dem kommen konnte, was unbegreiflich ist in seiner Grausamkeit und Menschenverachtung. Verstehen um zu verhindern, dass so etwas noch einmal geschehen kann.

Und trotzdem verstören mich die folgenden Zeilen, weil ich auch hier, mit dem was ich heute weiß, finde, dass die Gewichtung schräg ist:

„Welche Verbiegung des Gewissens findet statt, welche Zerstörung der geistigen Substanz, dessen, was den Menschen zum Menschen macht, was das Beste in ihm ist. Nicht an dem zerstörten Materialwert, nicht an Blut und etwa geschehenen Morden kann man die Grösse der Verbrechen messen, sondern am Seelenmord der Opfer und am Gewissensmord der Ausführenden.

Es geschieht furchtbares Unrecht am jüdischen Volk, aber grössere Zerstörung geschieht am deutschen Volk selbst. Es ist der geistig Geplünderte und der im tiefsten Sinne Leidtragende.“

Aus: Die Kameradschaft, Heft 12, Dezember 1938, S. 235

Ich weiß nicht, wie die Lesart damals war. Ich würde an der Stelle zu gerne sagen, dass der Autor oder die Autoren die Juden selbstverständlich auch zum deutschen Volk zählen. Und damit die Gesamtheit der Ereignisse als Zerstörung am deutschen Volk interpretieren. Aber diese Lesart kann ich nicht verifizieren. Und ich muss den Gedanken zulassen, dass sie sich – quasi soldatisch – von den Verlorenen abwenden und an die wenden, die übriggeblieben sind. Und vielleicht müssen wir auch dem Umstand Rechnung tragen, dass sie im Dezember 1938 im Exil in Amsterdam noch nicht wissen, was auf die Deportationen folgt. Dass Juden in den Konzentrationslagern systematisch vernichtet werden – entweder in den Gaskammern oder in den Arbeitslagern.

Sicher ist, dass in den deutschen Zeitungen so etwas nicht zu lesen war. Im Augenzeugenbericht heißt es dazu:

„Wie Hohn wirkte am Tage darauf, was in der Presse stand. Da las man die Alltagsnachrichten wie immer, und erst, wenn man suchte, fand man an unauffälliger Stelle eine kurze Notiz, dass in ’spontanen‘ Aktionen sich der ‚berechtigte Zorn des Volkes‘ Luft gemacht habe, dass in den Synagogen Nachts ‚Feuer ausgebrochen‘ sei, dass man sich auf den Schutz der umliegenden Häuser habe beschränken müssen, dass Geschäfte zerstört worden seien, dass die Männer in Schutzhaft seien.“

Aus: Die Kameradschaft, Heft 12, Dezember 1938, S. 238

Und an der Stelle bin ich mir wieder sehr sicher, dass es mehr als wichtig war, dass mein Großvater und seine Mitstreiter eine Publikation wie „Die Kameradschaft“ herausgebracht haben. Dass darin festgehalten wurde, was in Deutschland vor sich geht. Und dass diese Veröffentlichungen auf allen möglichen Wegen nach Deutschland geschmuggelt wurden.

Artikel im Original in „Die Kameradschaft“

1 Kommentar

  1. Wenn eine naiv imaginierte Sophie Scholl über die Judenverfolgung redet - Übermedien

    […] Der Kameradschaftskreis hatte weitreichende Verbindungen ins nationalsozialistische Deutschland und zu anderen Widerstandskämpfern im europäischen Exil. Unter anderem zu Eberhard Koebel, dem Gründer der Jungenschaft dj.1.11, deren Ulmer Gruppe auch Hans Scholl angehörte. Und so ist möglicherweise auch Sophie Scholl damit in Berührung gekommen oder hat in Diskussionen vom Inhalt erfahren. In einem Artikel dieser Ausgabe werden sehr dezidiert die Vorgänge des 9. November 1938 beschrieben. Und es gab weitere Zeitschriften dieser Art. […]

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Die erste Seite der Enzyklika von Papst Pius XI: "Mit brennender Sorge und steigendem befremden beobachten Wir seit geraumer Zeit den Leidensweg der Katholischen Kirche, die wachsende Bedrängnis der ihr in Gesinnung und Tat treubleibenden Bekenner und Bekennerinnen inmitten des Landes und des Volkes, dem St. Bonafatius einst die Licht- und Frohbotschaft von Christus und dem Reiche Gottes gebracht hat. Diese unsere Sorge ist nicht vermindert worden durch das, was die Uns an Unserm Krankenlager besuchenden Vertreter des hochwürdigen Episkopats wahrheits- und pflichtgemäß berichtet haben."

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