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Episode 38

„Ist Hitler legal?“

In einem Artikel von 1938 fragt ein Autor, ob Hitler legal an die Macht gekommen sei. Eine Frage, die hypothetisch scheint. Denn sie ändert nichts an den Umständen. Um katholischen Widerstand zu legitimieren, ist die Frage allerdings entscheidend.

Die Titelseite der Widerstandszeitschrift: Zu sehen ist ein großes weißes K auf grünem Grund im Hintergrund, darüber einmal das Wort Kameradschaft. Rechts daneben ist die erste Seite des darin enthaltenen Artikels "Ist Hitler legal?" zu sehen. Den Artikel lese ich in der Podcastfolge vor.

Januar 1938. Fünf Jahre ist die Hitler-Regierung bereits an der Macht. Aber das Jahr 1938 wird die Situation vieler Menschen in Deutschland noch einmal verschärfen. Das konnten mein Großvater und seine Mitstreitern natürlich noch nicht wissen als sie im Januar 1938 die dritte Ausgabe der „Kameradschaft“ veröffentlichten, aber vielleicht haben sie es geahnt.

Viele Texte der dritten Ausgabe wärmen im Prinzip noch mal auf, was schon in den ersten beiden Ausgaben beschworen wurde: Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung im Kampf gegen das Hitler-Regime. Sie beschwören die alten Tugenden der Jugendbewegung herauf mit ihrer wortgewaltigen und bisweilen romantisch verklärten Sprache. Eine Einheit, die am „lodernden nächtlichen Feuer“ entstand und sich in ihrer vielfältigen und eigenen Weise der Freiheit der Jugend verschrieben hat. Wahrscheinlich brauchte es diese Reden, um an die gute alte Zeit zu erinnern und vor Augen zu führen, was das Ziel dieses Kampfes gegen Hitler war: Die Freiheit zurückzugewinnen.

Für mich persönlich war deshalb ein anderer Text wesentlich interessanter. Allein die Überschrift hat bei mir zu Nachdenkfalten auf der Stirn geführt: „Ist Hitler legal?“ Natürlich nicht! Was für eine Frage?! schießt es mir reflexhaft durch den Kopf und dann denke ich: Kann es wirklich sein, dass das 1938 immer noch nicht alle gewusst haben? Warum denkt mein Großvater, dass man diese Frage noch mal stellen und vor allem beantworten muss?

Katholiken und Widerstand

Was ich im Laufe des Textes verstehe: Man musste diese Frage wohl tatsächlich noch mal stellen. Denn – und das scheint uns heute wahrscheinlich ein wenig irrsinnig – im Prinzip war den Katholiken der Widerstand gegen den Staat verboten. Mein Großvater wollte also mit diesem Text Argumente für den Widerstand liefern. Beziehungsweise sogar belegen, warum Widerstand durch einen Christen nicht nur gerechtfertigt ist, sondern im Prinzip sogar seine Pflicht. Wobei ich von vornherein sagen muss: Es ist nicht klar, ob mein Großvater den Text selber geschrieben hat, oder ob der Text eine Ko-Produktion mit jemand anderem war. Aber mein Großvater war in jedem Fall mit dafür verantwortlich, dass dieser Text genau so im Januar 1938 veröffentlicht wurde. Er beginnt so:

„Wenn man mit Deutschen, die betont christlich und national denken, darüber spricht, ob man gegen die heute in Deutschland herrschenden Kreise kämpfen müsse, so ist häufig die erste Frage die, was denn nach dem Ende des « Nationalsozialismus » in Deutschland kommen wird. Wird man nicht sozusagen den Teufel mit dem Beelzebub austreiben? Dem Bolschewismus den Weg bereiten und eine Lage schaffen, die dann noch viel radikaler und tyrannischer als heute ist? Das ist in der Regel eigentlich die erste Frage, die diskutiert wird.“

Aus Kameradschaft, Ausg. Januar 1938, S. 63

Mit anderen Worten: In christlich-nationalen Kreisen ist die Angst vor dem Kommunismus größer als die Angst vor dem, was unter der Regierung Hitlers noch so passieren könnte. Das ist – finde ich – auch 1938 schon eine ziemlich irritierende Haltung. Jetzt bin ich aber keine Historikerin und kann das vielleicht gar nicht so gut einschätzen. Deshalb habe ich mir für diese Podcast-Ausgabe einen Experten als Unterstützung geholt: Dr. Matthias von Hellfeld. Der ist nämlich Historiker und hat in seiner Promotion auch über meinen Großvater recherchiert und geschrieben. Und vielleicht kennen ihn einige von euch inzwischen auch aus dem Podcast „Eine Stunde History“ von Deutschlandfunk Nova. Und um das Ganze hier besser einschätzen zu können, hab ich Matthias als allererstes gefragt, ob die Antwort auf die Frage „Ist Hitler legal?“ nicht völlig offensichtlich war?

„Ja, offenbar nicht. Man kann natürlich lange spekulieren darüber, das wollen wir nicht tun, aber 1938 war schon noch so ein Kipppunkt. Da war der Höhepunkt der Popularität von Hitler erreicht und auch eigentlich schon überschritten, wenn man es im Nachhinein betrachtet. Alles das, was er bis dahin gemacht hat, ist relativ reibungslos von statten gegangen – Ruhrbesetzung, Österreichanschluss, etc, etc, also es waren alles Dinge, die sozusagen versprochen worden sind, und die dann auch eingehalten wurden…“

Aus dem Interview mit Dr. Matthias von Hellfeld vom 22. Mai 2018

Hitler hat also längst gezeigt, dass mit ihm nicht zu spaßen ist. Und um die Liste von Matthias noch ein bisschen zu ergänzen, hier noch ein paar weitere „Errungenschaften“ des Hitler-Regimes bis 1938: Denn zu diesem Zeitpunkt sind bereits zahlreiche politische Gegner ermordet oder zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt und so aus dem Weg geschafft worden. Das Nürnberger Gesetz, das die Grundlage zur Judenverfolgung lieferte, war bereits seit drei Jahren in Kraft. Ebenso das „Gesetz über die Hitlerjugend“, das ab dem 1. Dezember 1936 die Mitgliedschaft in der HJ zur Pflicht machte – und eine gleichzeitige Mitgliedschaft in einer konfessionellen Organisation verbot. Zahlreiche katholische Jugendführer wurden verfolgt, verhaftet und ebenfalls zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Es ist also schon einiges zusammengekommen, mit dem auch Katholiken ihren Widerstand hätten rechtfertigen können. Und es gab auch schon ersten Widerstand, nur eben nicht in der breiten Masse. Der war aber zwingend notwendig, denn …

und jetzt allmählich merkte man aber, die Rhetorik wird härter, es beginnt sozusagen sich aufzukräuseln, es gibt Widerstandskreise in Deutschland, die überlegen, Hitler umzubringen, es gibt Leute, die sagen, wir müssen einen Militärputsch machen, weil das sozusagen zwar geräuschlos verlaufen ist, aber schon gegen Völkerrecht verstoßen hat, auch damals. Und es eigentlich nur deshalb nicht schon zum Knall gekommen ist, weil eben England und Frankreich entweder nicht in der Lage waren oder nicht wollten, dass also Hitler gestoppt wird. Und nun gibt es Leute wie die Kameradschaftsgruppe, also dein Großvater, die sich gesagt hatten: Wie kriege ich eigentlich Leute dazu, sich gegen dieses System zu erheben? Und er hat es tatsächlich damals für nötig befunden – und das kann man ja nur aus seiner Perspektive sagen und nicht aus unserer – er hat es also für nötig befunden, den Leuten zu erklären, dass Widerstand gegen diese Regierung rechtens ist.“

Aus dem Interview mit Dr. Matthias von Hellfeld vom 22. Mai 2018

Die Angst vor dem Kommunismus

Dazu musste der Verfasser des Artikels allerdings erst mal die Bedenken ausräumen, dass nach den Nationalsozialisten die bösen Bolschewiken an die Macht kommen. Und das macht er mit folgendem Satz:

„Wir wollen als Voraussetzung dieser Ausführungen annehmen, dass der Nachfolger des «Nationalsozialismus» in Deutschland nicht der Bolschewismus sein wird, sondern gute Deutsche, die zwar Autorität und Ordnung, aber gerade deswegen Frieden und Freiheit wünschen und wollen.“

Aus Kameradschaft, Ausg. Januar 1938, S. 63

Und da kann ja nun wirklich niemand was dagegen haben. Kann also losgehen mit den Kernfragen:

„Unsere Frage geht dahin: Darf ein Christ es vor seinem Gewissen verantworten, aktiv gegen die heute in Deutschland geltenden Kreise zu kämpfen, oder muss er sich, wenn überhaupt, so höchstens auf einen gewissen bedingten passiven Widerstand beschränken? Wir sind Christen und daher „untertan der Obrigkeit“ und verpflichtet «dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist». Die Kernfrage ist demnach: ist die heutige Regierung in Deutschland «Obrigkeit» im Sinne der Heiligen Schrift?“

Aus Kameradschaft, Ausg. Januar 1938, S. 63

Allein dieser Gedanke, dass ich als Christ der Obrigkeit Untertan zu sein habe und dass die Obrigkeit sozusagen die zehn Gebote schlägt – das kommt mir völlig absurd vor. Und damit konfrontiere ich dann auch Matthias in unserem Gespräch:

Ich: Was er ja macht ist, dass er sich eigentlich an die Katholiken wendet. Also er versucht ja wirklich den Katholiken auch zu erklären, warum Widerstand rechtens ist, weil anscheinend, also der Eindruck entsteht bei mir, die Katholiken so ihre Bedenken hatten, ob das jetzt OK ist gegen eine Obrigkeit aufzubegehren. Das fand ich irgendwie ganz schräg!? Weil es gibt ja noch viele andere Gründe für Katholiken, die gar nicht in dieser Machtergreifung liegen, die sie auch längst hätten aufstehen lassen müssen, nämlich dass ihre Freunde, Bekannten, Nachbarn abtransportiert werden. Nach den Gesetzen der Nächstenliebe brauche ich diese Herleitung ja gerade nicht, um zu sagen, das ist nicht rechtens!

MvH: Nora, wir reden vom Jahr 1938. Da hat das, was du jetzt akklamierst, in großem Stile noch gar nicht stattgefunden. Katholiken wie Protestanten [waren der Ansicht, Erg. d. Autorin], und da könnte man jetzt tatsächlich mit Luther antworten: ‚Gebt dem Staat, was des Staates ist‘. Das heißt, die akzeptieren die Obrigkeit. Protestanten und Katholiken sind keine Revolutionäre. Sie haben einen anderen Zugang zu Gott und zur Kirche und zu allem, was dazwischen ist – ja. Aber der Staat ist für sie beide unantastbar. Das ist eine Tatsache, der wird gedient. Also es gibt keine Revoltenaufrufe in diesen beiden christlichen Religionsspielarten.“

Aus dem Interview mit Dr. Matthias von Hellfeld vom 22. Mai 2018

Ehrlich gesagt, ich hab ja in vorangegangenen Einträgen gerne mal darauf angespielt, dass sich Katholiken nicht vehement genug gegen Hitler gewehrt hätten. Und auch der belgische Pfarrer aus Folge 37 war ja einigermaßen irritiert, dass seine katholischen Glaubensbrüder sich so still verhalten gegenüber dem Unrecht, das geschieht. Aber klar, wenn Obrigkeitshörigkeit sozusagen zu den Grundprinzipien gehört, dann ist das wahrscheinlich schwer, dagegen an zu argumentieren. Wobei, sagt Matthias, die Katholiken im Prinzip sehr viel eher immun gegen den Nationalsozialismus waren als die Protestanten. Auch ein Aspekt, der mir so noch gar nicht bewusst war. Und deshalb, findet Matthias, waren die Katholiken erstmal nicht ganz die richtigen Ansprechpartner:

„Mich hat so ein bisschen gewundert, warum er DIE anspricht. Er hätte eigentlich die Protestanten ansprechen sollen, weil die wurden mit dem Antisemitismus von Luther ja geprügelt, von den deutschen Christen, die ja dann so ne Art religiöse Ersatzform der Nazis waren, die gesagt haben: Seht her, der Luther ist euer großes Vorbild, euer Religionsgründer. Der hat einen antisemitischen Hetz geschrieben, der ist wirklich nicht ertragbar heute, den kann man gar nicht lesen, so schlimm ist das. Also da hätte man vielleicht sehr viel eher drauf kommen können. Aber er setzt sich tatsächlich mit den Katholiken auseinander, möglicherweise um es auch zu verstärken, möglicherweise auch weil er selber daher kommt und er das natürlich sehr viel besser beurteilen kann als die Lebensverhältnisse eines Protestanten, der er ja selber nicht ist. Aber tatsächlich ist es so, dass Katholiken natürlich auch mit sich gehadert haben und sich gefragt haben: Darf ich das tun?“

Aus dem Interview mit Dr. Matthias von Hellfeld vom 22. Mai 2018

Zurück zur Geburtsstunde des Nationalsozialismus

Und um genau diese Frage zu beantworten, geht der Artikel zurück zur Geburtsstunde des Nationalsozialismus. Die Frage lautet deshalb:

„Ist der Nationalsozialismus legal zur Macht gekommen oder wenn nein, hat sich diese Macht dann nach der Machtergreifung späterhin legalisiert?“

Aus Kameradschaft, Ausg. Januar 1938, S. 63

Beide Fragen werden im Verlauf des Artikels sehr dezidiert und vor allem sehr sachlich geklärt. Und mein Factchecker Matthias sagt, dass alles, was in dem Artikel so aufgedröselt wird auch wirklich den historischen Tatsachen entspricht. Im Prinzip also alles rhetorische Fragen, die der Artikel stellt, weil die Antworten eigentlich klar sind. Aus heutiger Sicht zumindest. Denn was man dabei nicht vergessen darf: Ein Artikel wie der, der in der Kameradschaft zu lesen war, hätte zwischen 1933 und seinem Erscheinen 1938 so in keiner offiziellen deutschen Zeitung gestanden. Beginnen wir also bei der Machtergreifung 1933:

„Die nationalsozialistische Regierung in Deutschland leitet die Legalität ihrer Machtausübung von dem sogenannten «Ermächtigungsgesetz» her, welches unter Zustimmung des Zentrums am 23. März 1933 im Reichstage beschlossen wurde.

Dieses Gesetz trug verfassungsändernden Charakter: nach der Weimarer Verfassung war für die Änderung der Verfassung eine Zweidrittel-Mehrheit notwendig, diese Zweidrittel-Mehrheit war aber eben durch die Zustimmung des Zentrums bei der Abstimmung erreicht, wenn auch nur dadurch, dass die kommunistischen Abgeordneten des Reichstags bei der Abstimmung nicht hatten anwesend sein können.
Es fragt sich, ob die Zweidrittel-Mehrheit des 23. März 1933 wirklich eine Zweidrittel-Mehrheit im Sinne der Weimarer Reichsverfassung war.

War es zulässig einen Teil der Abgeordneten, nämlich alle diejenigen, welche der kommunistischen Partei angehörten, auszuschalten und auf diese Weise die Voraussetzungen zu schaffen, welche eine Zweidrittel-Mehrheit für die Annahme des Ermächtigungsgesetzes ermöglichte?“

Aus Kameradschaft, Ausg. Januar 1938, S. 64

Im Prinzip folgt jetzt ein Faktencheck. Hier werden die Argumente derer zerpflückt, die behaupten, der Ausschluss der Kommunisten sei rechtens gewesen. Und wenn ich mir so überlege, wie groß die Angst vor den Kommunisten oder Bolschewiken so war, kann ich mir gut vorstellen, dass viele Menschen diese Argumente gerne als Tatsachen angenommen haben. Es war also für das Ziel des Artikels ziemlich wichtig, da mit Missverständnissen aufzuräumen. Wer das im Detail wissen möchte, kann sich den Artikel in der Bildergalerie noch einmal komplett durchlesen. Hier an dieser Stelle soll reichen: Es kann sachlich und faktisch richtig dargelegt werden, dass der Ausschluss der Abgeordneten nicht verfassungskonform war. Dass sie selbst dann zur Abstimmung hätten zugelassen werden müssen, wenn sie gar keiner Partei mehr angehört hätten:

„Aus alledem ergibt sich, dass die Zugehörigkeit zu einer Partei keinerlei wesentliche Bedeutung für die Abgeordneten der Weimarer Republik hatte, soweit die Zugehörigkeit zum Parlament in Frage kam. Aus diesem Umstand ergibt sich aber weiter, dass ein Ausschluss eines Abgeordneten wegen Zugehörigkeit zu einer Partei in der Verfassung nirgends vorgesehen und daher unzulässig war. Der Ausschluss der kommunistischen Abgeordneten aus dem Reichstag wegen Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei wäre also ohne jede Rechtswirkung gewesen, wenn er denn erfolgt wäre. In Wahrheit aber, und das ist das merkwürdige, ist ein solcher Ausschluss niemals erfolgt.“

Aus Kameradschaft, Ausg. Januar 1938, S. 65

Was also konnte die Mitglieder der kommunistischen Parteien davon abhalten, zur Abstimmung zu kommen?

„Die Antwort ist einfach, fast zu einfach, um ohne weiteres auf sie zu kommen. Die Antwort liegt nämlich in dem Umstand, dass die kommunistischen Abgeordneten einfach keine Ladung zu der Reichstagssitzung bekommen haben. Dieses Unterlassen der Einladung der kommunistischen Abgeordneten ist der Grund ihres Nichterscheinens zu der Sitzung, wobei hier dahingestellt bleiben kann, was mit ihnen geschehen wäre, wenn sie ohne Ladung im Reichstag erschienen wären.“

Aus Kameradschaft, Ausg. Januar 1938, S. 65

Matthias von Hellfeld lässt das nicht einfach dahingestellt:

„Das ist eben das Unrecht am Beginn gewesen, dass man einfach mal eben so schnell 90 kommunistische Abgeordnete in den Kerker steckt, bevor die Abstimmung stattfindet, IST Unrecht. Dazu gehört millionenfach ein weiteres Unrecht, darum geht’s aber noch gar nicht. Es geht ja nur um den Anfang in diesem Artikel. Also wenn die Menschen gewusst hätten, dass die wirklich verprügelt wurden, dass – die mussten in den Reichstag reingehen – stell dir das mal bildlich vor – und da standen an der Seite SS-Leute, bewaffnet, und haben die angegrimmt und haben böse Kommentare gegeben über die SPD-Abgeordneten, die da reinliefen. Sie haben die Leute eingeschüchtert, sie haben gesagt: Wenn du da raus kommst und nicht mit Ja gestimmt hast, dann hau ich dir die Nuss ein. So das waren Familienväter, das waren junge Leute, die – was weiß ich – gerade am Anfang – und so weiter. Da bist du nicht frei. Das ist keine freie Abstimmung. Und das ganze basierte auf dieser Lüge einer freien Abstimmung: Ihr habt uns doch ermächtigt.“

Aus dem Interview mit Dr. Matthias von Hellfeld vom 22. Mai 2018

Im Artikel ist das wie folgt formuliert:

„Da demnach so oder so ein gültiger Ausschluss der kommunistischen Abgeordneten nicht in Frage kommt, ist die ganze Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz ungültig, eine Zweidrittel-Mehrheit insbesondere ist nie erreicht worden, das Ermächtigungsgesetz hat keinen Rechtsgrund, die nationalsozialistische Regierung in Deutschland entbehrt insoweit der Legalität.

Die derzeitige Regierung in Deutschland aber stützt selber ihre Legalität auf das erwähnte Ermächtigungsgesetz, dessen Nichtigkeit wir eben bewiesen.

Aus Kameradschaft, Ausg. Januar 1938, S. 66

Ich lebe natürlich nicht 1938 und kann mich deshalb schlecht in die Lage von jemandem versetzen, der oder die das nach fünf Jahren Nazidiktatur liest. Aber auch heute entsteht bei mir ein Gefühl von: Na toll. Und jetzt? Sie sind zwar nicht legal in diese Position gekommen, aber sie machens ja einfach trotzdem. Wie soll ich kleine Wurst da was dran ändern? Augenscheinlich machen diese Nazi-Heinis sich ihre Gesetze ja selber. Auf der anderen Seite – aufgeben und einfach weiter machen wie vorher ist natürlich auch keine Lösung. Was also tun?

Legitimation einer christliche Revolution

Die einzige Möglichkeit, eine zu Unrecht an die Macht gekommene Regierung zu stürzen, die sich zudem ihre eigenen Gesetze macht und maßgeblich gegen alle moralischen und christlichen Grundsätze verstößt, wäre eine Revolution. Das muss man nicht schön finden und die Chance zu scheitern ist groß. Aber wenn man jetzt nach diesen Ausführungen das Unrecht wirklich erkannt hat, dann bleibt eigentlich nur noch diese Option: Widerstand und Revolution. Und die Angst, dabei draufzugehen oder – für überzeugte Christen vielleicht noch schlimmer – selber gezwungen sein, jemanden zu töten:

„Wenn du Widerstand leistest, dann begehst du ja auch Unrecht – du begehst meinetwegen Sachbeschädigung, du brichst irgendwo ein, im schlimmsten Fall musst du auch jemanden umbringen, das ist einem Christen verboten und einem stramm gläubigen Katholiken allemal – und dann versucht er gewissermaßen auf diese Ressentiments, auf diese Vorbehalte einzugehen und zu sagen: Wir müssen uns darüber auch hinwegsetzen, denn das, was uns sozusagen entgegentritt, ist noch mehr furchtbar und noch mehr schlimm und Satan und was weiß ich nicht alles, dass man sozusagen diese Widerstände einfach auch überwinden muss.“

Aus dem Interview mit Dr. Matthias von Hellfeld vom 22. Mai 2018

Und genau um diese Rechtfertigung des Widerstands geht’s im zweiten Teil des Artikels. Zugegebenermaßen ein wenig von hinten durch die Brust ins Auge. Denn zunächst mal wird gefragt, ob das, was die Nazis da gemacht haben, vielleicht als Revolution bezeichnet werden kann. Und ob das in einem christlichen Sinne legal ist:

„Man wird sich daran erinnern, dass durch Revolutionen neue Legalitäten geschaffen werden können. Es wäre mithin zu fragen, ob denn wenigstens die derzeitige Regierung eine neue revolutionäre Legalität für sich in Anspruch nehmen kann.
Eine gerechte Revolution (und nur eine solche kann nach dem christlichen Naturrecht eine neue Legalität schaffen) setzt voraus, dass die bisherige legale Regierung ihre wesentlichen Pflichten gröblich und beharrlich verletzt hat, und dass weiter die Revolutionäre ihrerseits an die Stelle gröblicher und beharrlicher Pflichtverletzungen Recht und Gerechtigkeit setzen konnten.“

Aus Kameradschaft, Ausg. Januar 1938, S. 66

Ja, mal kurz bis drei zählen – genau. Auch wer das 1938 gelesen hat, konnte hier nur zu einem Schluss kommen (es sei denn natürlich, er war ein überzeugter Nazi, aber an die war der Artikel ja auch nicht gerichtet): Das, was die Nazis da gemacht haben, war natürlich keine dem christlichen Naturrecht entsprechende, gerechte Revolution.
Und günstigerweise gab es, um die Argumentation des Verfassers zu untermauern, jüngst einen Hirtenbrief der spanischen Bischöfe, in dem sie sich auf den Heiligen Thomas von Aquin beziehen. In dem Hirtenbrief heißt es, dass …

„… der grosse Kirchenlehrer die Revolution gegen eine Tyrannei zulässt, weil eben der Kampf gegen die Tyrannei, das heißt gegen eine Regierung voller Willkür und Ungerechtigkeit, nur dem Namen nach Revolution in Wahrheit aber heiligste Notwehr sei. Heute, wo ganz offensichtlich Ungerechtigkeit und Willkür in Deutschland herrscht, muss man mit Karl Barth von Tyrannei statt von Obrigkeit sprechen. Wie der Krieg, so ist auch die Revolution erlaubt und zulässig, wenn sie gerecht ist. Revolution im gerechten Sinne bedeutet Kampf gegen Willkür und Tyrannei, Ersatz der Unordnung durch Ordnung und niemals Ursupation, Machtergreifung an sich.“

Aus Kameradschaft, Ausg. Januar 1938, S. 66

Damit sind also mal eben Krieg und Revolution vor dem Gewissen eines Christen legitimiert. Und ja, das liest sich natürlich aus heutiger Sicht banal. Wir sind heute, 80 Jahre später, in vielen Dingen aufgeklärter, sind in der Regel im Alltag viel weniger an christliche Werte gebunden. Beziehungsweise werden die vor allem dann wieder hochgehalten, wenn es darum geht, vor der Islamisierung des Abendlandes zu warnen, während in den Bänken der Kirchen gähnende Leere herrscht. Aber ansonsten existieren viele Christen im Prinzip nur auf dem Papier.

Widerstand mit dem Segen Gottes

Aber damals haben die Menschen solche grundlegenden Entscheidungen eben sehr stark auch an ihren grundlegenden, christlichen Überzeugungen gemessen. Und deshalb brauchte es einen Artikel wie diesen, der dann folgerichtig auch zum Schluss kommt:

„Wir beantworten also die Frage nach der Legalität der heutigen Regierung in Deutschland ohne Einschränkung mit Nein. Dieses Nein ist von eminenter und grundlegender Bedeutung. Falls dieses Nein nämlich ein Ja wäre, so wäre jeder Christ im Gewissen verpflichtet jeden aktiven Widerstand gegen das derzeitige Regime zu unterlassen, dann nämlich wäre dieses Regime Obrigkeit im Sinne der Heiligen Schrift und wir alle wären ihm als von Gott eingesetzt Gehorsam und Achtung schuldig. Man sieht aus diesen wenigen Worten, wie ungeheuer bedeutungsvoll die Frage nach der Legalität der heutigen deutschen Regierung ist, so ungeheuer bedeutungsvoll, dass es fast vermessen erscheint, diesen ganzen Fragenkomplex in einem so kurzen Rahmen, wie den dieser Zeitschrift anzuschneiden. Wenn dieses trotzdem getan wurde, so allein deshalb, weil es schon wichtig und verdienstlich erscheint, diese Fragen hier exakt und betont zu stellen, kurz zu ihnen Stellung zu nehmen und vor allem, zum weiteren Nachdenken über sie anzuregen. Nur derjenige, der in strenger Selbstprüfung selber zu diesen Fragen innerlich Stellung genommen hat, kann Verantwortung und Mut zu eigener Entscheidung finden.“

Aus Kameradschaft, Ausg. Januar 1938, S. 67f

Und damit ist das Ziel dieses Artikels ziemlich klar formuliert. Widerstand. Mit dem Segen Gottes sozusagen. Für Freiheit und Gerechtigkeit und gegen die Nazidiktatur. Im Prinzip kommt der Artikel ziemlich harmlos daher. Aber spätestens jetzt wird klar, warum der Verfasser anonym bleibt und dieser Artikel nicht, wie einige andere zuvor, von Theo oder Plato unterschrieben wurde. Dieser Artikel ist ein Aufruf zum Kampf, zum Widerstand, zur Revolution. Und das gilt nicht nur für diesen einen Artikel.

„Die Kameradschaft ist ein Pamphlet gewesen, was von Hand zu Hand ging und natürlich eine Handreichung war, wie im besten Sinne des Wortes. Es war eine Handreichung zum Überleben im Nazireich, zum Kampf gegen die Nazis möglicherweise auch und möglicherweise auch zur Kontaktaufnahme untereinander und zum – naja – durchhalten einfach. Dass man über diese Kameradschaft und das, was da drin stand, eben Gedanken in den Kopf bekommt, die einen in die Lage versetzen, diese Zeit zu überstehen. Ganz erst mal so als Basishilfe. Selbstverständlich ist es aber auch eine Handreichung im Sinne von politischen Handlungsanweisungen. Die waren manchmal versteckt, die waren im Subtext drin, die waren sozusagen in der gesamten Ideologie drin, und deswegen ist es ja auch so gefährlich gewesen für ihn und für alle, die diese Schrift hatten, und deswegen haben die Nazis diese und andere Schriften ja auch so erheblich verfolgt! Die Aktenschränke sind ja immer noch voll von den Unterlagen, wo die sich wirklich einen dicken Kopf gemacht haben: Welchen Einfluss hat das, was wollen die eigentlich, ist das für uns wirklich gefährlich, ist das möglicherweise ein Frontalangriff auf den Kern zumindest eines Teils unserer Ideologie, die sich ja über all das hinwegsetzt.“

Aus dem Interview mit Dr. Matthias von Hellfeld vom 22. Mai 2018

Für mich ist diese Geschichte vor allem ein Indiz. Ein Indiz dafür, dass da, wo Regierungen und Herrscher das Wort fürchten und deshalb reihenweise Journalisten und politische Aktivisten einsperren, oft ohne Angabe von Gründen und ohne einen ordentlichen Gerichtsprozess, da geschieht Unrecht. Da herrschen Machtstrukturen nicht zum Wohle vieler, sondern nur zum Wohle einiger weniger. Und da sollte man ziemlich genau hinschauen.

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