Im Exil in Helmond trifft mein Opa Theo Hespers einen alten Bekannten wieder: Dr. Hans Ebeling, genannt Plato. Während Plato Militarist ist und für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet wurde, ist Theo pazifistisch eingestellt.
In der Biografie von Theo Hespers erscheint die Zeit in Helmond wie ein Loch. Eine Zeit ohne Ereignisse. Zäh wie Kaugummi. Und doch entspinnen sich hier die ersten Fäden zu einer später absolut waghalsigen Geschichte. Aber eben langsam – und sehr, sehr leise.
Die Wohnung in Helmond liegt direkt über einer Kneipe. Wahrscheinlich eine Art Gästezimmer. Die Toilette befindet sich auf dem Flur. Aber wer auf der Flucht ist oder im Exil lebt, kann keine großen Ansprüche stellen. Und die Familie musste einfach schnell irgendwo unterkommen. Vor allem an die Kneipe erinnert sich mein Vater ziemlich, weil er immer heimlich die Reste aus den Gläsern der Gäste getrunken hat. Da schüttelt es mich immer schon beim Zuhören.
Viel Besuch gab es in Helmond nicht. Dafür waren die Besucher, die kamen, umso bedeutender. Einer davon war Hans Ebeling, genannt Plato. Eine Anspielung auf den Schüler des griechischen Philosophen Sokrates. In vielerlei Hinsicht. Denn Plato „stand auf junge Männer“, wie mein Vater gerne sagt. „Aber er hat nie was mit einem gehabt!“. Mir ist das, ehrlich gesagt, ziemlich egal. Homosexualität ist nur eine Spielart des Lebens. Ich persönlich finde es ziemlich dämlich, Menschen nach ihrer sexuellen Orientierung zu lablen. In dem Kontext und zu der Zeit spielt das aber eine ganz andere Rolle. Nicht nur das. Es erklärt wesentliche Teile der Geschichte.
Mein Großvater und Plato kannten sich bereits aus Mönchengladbach. 1923 haben sie gemeinsam gegen die Separatisten im Rheinland gekämpft. Meinem Großvater Theo hat die Aktion damals drei Tage Gefängnis beschert. Ich schätze, so ein Erlebnis schweißt zusammen. Allerdings haben sich die Wege der Beiden erst mal wieder getrennt. Denn während mein Großvater sich zu den Pazifisten zählte, war Plato ausgesprochener Militarist. Er gehörte dem Jungnationalen Bund an, einer Bewegung innerhalb der Bündischen Jugend. Heute würde der Junabu wohl ziemlich weit rechts eingestuft werden. Der Jugendbund galt als Vorstufe auf den Militärdienst, die Ausrichtung galt als „konservativ und revolutionär zugleich„.
Insgesamt gehörten um 1923 rund 7.000 Jungen und Mädchen zu diesem Bund. Klingt allerdings mehr nach Einheit als es am Ende war. Konservativ hieß so viel, dass die Frauen für „Erziehung und Bildung“, die Männer für die große Politik zuständig waren. Plato waren die Frauen im Bund gleich ganz ein Dorn im Auge. Er sah den Junabu als reinen Jungenbund. Das klingt in dem Wikipedia-Artikel einfach nach konservativer Männerwirtschaft. Vor dem Hintergrund, dass Plato zumindest homoerotische Neigungen hatte (sexuelle Kontakte mit Männern lassen sich nicht belegen), bekommt diese Abspaltung, die später auch unter dem Namen Pfadfinderschaft Westmark firmierte, eine etwas andere Deutungsrichtung.
Dabei geht es explizit nicht darum zu sagen, dass Plato nur einen „Club für Gleichgesinnte“ schaffen wollte. Im Begriff Homosexualität wird die Bedeutung von Sex meiner Meinung nach maßlos überinterpretiert. Plato war in erster Linie Militarist und politischer Aktivist. Mit Frauen konnte er nur eben nicht viel anfangen. Und vielleicht ist ihm deswegen entgangen, dass auch Frauen politisch aktiv sein können. Aber das sind an dieser Stelle reine Mutmaßungen. Was ich hier nur deutlich machen möchte: die Tatsache, dass Homosexualität auch nach Ende des Krieges und bis weit in die 1970er Jahre unter Strafe stand, hat in der Aufarbeitung der Geschichte dazu geführt, dass diese Tatsache einfach unterschlagen wurde. Sie ist aber an einigen Stellen als Motiv für Bekanntschaften, Zusammenschlüsse und auch Verhaltensweisen durchaus essentiell. Wer mehr dazu wissen möchte, muss sich nur mal durch den Wikipedia-Artikel zum § 175 lesen.
Platos militaristische Ausrichtung dürfte meinem Großvater nicht gefallen haben. Trotzdem tritt er 1925 der von Plato geschaffenen Pfadfinderschaft Westmark bei. Wie aktiv er da war, weiß ich nicht. Aber wahrscheinlich war es ein Zeichen von Loyalität seinem Freund und Mitaktivisten Plato gegenüber. Engeren Kontakt haben beide erst wieder 1932. Beide gehören zu diesem Zeitpunkt der Christlich Sozialen Jugendpartei (CSJP) an, das war der junge Zweig der Christlich Sozialen Reichspartei CSRP. Mein Großvater war inzwischen überzeugter Pazifist. Nach der Machtergreifung der Nazis verlieren sich die beiden aus den Augen. Theo muss fliehen und auch Plato bekommt wegen seiner politischen Aktivitäten Probleme mit den Nazis. Er flieht ein Jahr später, also 1934 – ebenfalls in die Niederlande.
Wie genau sich Plato und mein Großvater Theo dann im Exil gefunden haben, weiß ich nicht. Aber die deutschen Exilanten hatten inzwischen ein ziemlich dichtes Netzwerk geknüpft. Und so kommt es, dass Plato 1935 herausfindet, wo mein Großvater wohnt. Er besucht Theo, Käthe und meinen Vater in Helmond. Dass mein Vater sich so lebhaft an die Besuche von Plato erinnern kann, hat einen guten Grund. Plato brachte Abwechslung in das öde Leben in Helmond:
„Ich spielte gerne mit Plato. Plato war ein Kinderfreund! Sag ich Plato – ich wusste genau, gefühlsmäßig schon, dass der anders war als mein Vater. Ich wusste, dass mein Vater antimilitaristisch war. Ich konnte das nicht richtig ausdrücken, aber ich wusste – er hat mir verboten, Soldat zu spielen! Ich sag: Plato. Mach mir doch noch mal ein paar Kanönchen! Aus meinen Bauklötzen baute der dann eine Festung auf und Kanönchen, die die Festung beschießen sollten. Mein Vater: Was machst du aus dem Jungen? Machst du aus dem einen Militarist? Der soll pazifistisch aufwachsen!“
Interview mit meinem Vater vom 25. März 2015
Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sich Plato und mein Großvater Theo intensiv über die politische Situation in Deutschland ausgetauscht haben. Und sie werden auch darüber gesprochen haben, wie sich das wohl ändern lässt. Ganz sicher werden sie sich auch darüber gestritten haben, auf welchem Weg sie diese Veränderungen herbeiführen wollen. Als überzeugter Pazifist dürfte mein Großvater für den Kampf mit Worten eingetreten sein. Plato als ehemaliger Soldat und Bundesführer einer Wehrsportgruppe dürfte eine militärische Lösung zumindest nicht ausgeschlossen haben. Doch egal, wie diese Diskussionen verlaufen sind. Beide haben sich irgendwann wohl auf einen gemeinsamen Nenner geeinigt. Zum einen: Hitler muss weg! Und zum anderen: Wir müssen die Kräfte im Exil bündeln, wenn wir etwas erreichen wollen.
Es wird noch einige Zeit dauern, bis sie dieses Vorhaben in die Tat umsetzen können. Aber der Grunstein ist gelegt. Der Kontakt ist hergestellt. Die Idee ist geboren – und nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Diese zwei Männer, die ungleicher nicht sein könnten, wollen das Unmögliche möglich machen. Der eine verheirateter Katholik, Abstinenzler und Pazifist. Der andere schwul, versoffen und Militarist. Aber beide mit dem selben Plan. Hitler und seinen Nazischergen ordentlich ans Bein zu pissen. Ein Plan, den nicht nur die beiden sehr ernst nahmen. Auch die Nazis sahen die beiden Polit-Aktivisten durchaus als ernstzunehmendes Problem. Längst exisitieren Akten, in denen das Treiben von Theo Hespers und Hans Ebeling, genannt Plato, dokumentiert wird.
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