Stell dir vor, du kommst ins Büro. Vor dir steht ein Kollege, mit dem du schon ewig zusammenarbeitest. Und dann sagt er einen einzigen Satz, der dich so aus dem Konzept bringt, dass er deinen ganzen Tag auf den Kopf stellt. Und nicht nur das. Er hat Informationen über deinen Großvater, von denen du nichtmal wusstest, dass ausgerechnet er sie hat.
Es gibt diese Situationen im Leben, die einen komplett fassungslos machen. Ein Satz, ein ungläubiger Blick, die Suche nach der versteckten Kamera – Fragezeichen auf der Stirn und die kurz aufkeimende Frage, ob jetzt Zufall oder Schicksal ihre Finger im Spiel haben. So geht es mir im Oktober 2012 als mein Kollege Matthias von Hellfeld mich auf dem Flur des Deutschlandradios abfängt und sagt: „Wir haben da was gemeinsam …“
Ich geb’s zu – Matthias möge mir das verzeihen – aber in dem Moment hab ich nur gedacht: Wir zwei – was gemeinsam? Was bitte soll das sein? Dazu muss ich sagen: Matthias und ich sind Kollegen bei DRadio Wissen. Und während Matthias von Hellfeld ein gestandener Redakteur von inzwischen 60 Jahren ist und eine Koryphäe auf dem Gebiet der europäischen Geschichte und Politik, bin ich eher so die Variante Netzjournalistin. Von nix ne Ahnung, aber zu allem ne Meinung. Seit drei Jahren sitzen wir gemeinsam im Großraumbüro und kümmern uns um die Inhalte bei DRadio Wissen. Er on air – und ich im Netz. In diesen drei Jahren hat er das nun folgende nicht ein einziges Mal erwähnt.
„Wir haben da was gemeinsam…“ sagt Matthias also, während ich wie immer den Gang runterstürme. Keine Ahnung, was ich an diesem Tag an hatte, aber ich kann mir gut vorstellen, dass ich mit leichter Verspätung und vom Wind zersausten Haaren dick eingepackt im Flur gestanden haben muss. Ich hasse zu spät kommen. Entsprechend gehetzt ist mein Gesichtsausdruck. Aber dieser Satz sorgt dafür, dass ich mich die nächsten 30 Minuten nicht vom Fleck bewegen werde. Ich werde stehen bleiben und mich mit Matthias unterhalten. Weil er den Satz genau so beendet: „Ich habe über deinen Großvater promoviert.“
Das ist in der Tat ein Hammer. Denn ehrlich gesagt: ich rede wirklich sehr, sehr selten über meinen Großvater. Mit wem auch? Es gibt kaum jemanden, der diese Erfahrungen teilt. Aber bei meinem Nachnamen hätte ich doch erwartet, dass Matthias mich vielleicht früher mal darauf anspricht. Auf der anderen Seite – eigentlich ist nicht zu erwarten, dass ich eine direkte Nachfahrin von Theo Hespers bin. Ich bin schlicht zu jung. Ich könnte eine Urenkelin sein. Oder eine über drei Ecken angeheiratete Verwandte. Dass ich die Enkelin bin ist dann doch eher ungewöhnlich. Wobei mir das natürlich erst später aufgeht. Für mich ist das ja der Normalzustand.
Ich quetsche Matthias natürlich sofort aus. Noch nie vorher habe ich einen Menschen getroffen, der nicht aus dem Dunstkreis meines Vaters stammt und meinen Opa kennt. Die Geschwister Scholl kennen alle aus dem Geschichtsunterricht. Aber Theo Hespers? Ja klar, mein Großvater war Widerstandskämpfer. Aber deshalb ist man noch lange nicht berühmt. In meinem Geburtsort Mönchengladbach kennt man meinen Großvater natürlich. Dafür hat mein Vater gesorgt. Aber in Köln?
Die Überraschung ist perfekt – aber längst nicht vollständig. Denn Matthias ist der Redakteur der Abendsendung „Redaktionskonferenz“ – und hat tatsächlich geplant darin über das Leben meines Großvaters zu erzählen. Er hat diese Sendung geplant ohne zu wissen, dass ich an diesem Tag in der Redaktion sein werde. Und da steh ich nun. Wie auch immer man das alles nennen will – Schicksal, Zufall – es ist in jedem Fall kurios. Und natürlich, sagt Matthias, würde er sich sehr freuen, wenn ich ein wenig davon erzählen würde. Von meinem Großvater. Und wie die Familie mit der Erinnerung an ihn umgeht.
Naiv wie ich bin sage ich sofort ja. Und muss natürlich gleich zugeben: ich hab die Details zum Leben meines Großvaters nicht drauf. Ich weiß nicht genau, wann er wo war oder was er da gemacht hat. Fieberhaft krame ich in meinem Gehirn nach den Geschichten, die mein Vater mir jahrelang immer wieder aufs Neue erzählt hat. Aber ich bekomme sie einfach nicht in eine konkrete Reihenfolge. Also mache ich, was alle machen. Ich lese den Wikipediaeintrag über meinen Großvater. Da steht schließlich alles drin.
Während ich mich also darauf vorbereite am Abend schlaue Dinge über meinen Großvater zu erzählen, kommt Matthias ein paar mal zu mir. „Und du sagst, wenn dir das zu privat ist, OK? Dann brechen wir da jederzeit ab.“ Klar, mach ich. Was bitte soll denn daran privat sein? Mein Vater hat eh alles aufgeschrieben. Nicht, dass die Bücher je in irgendwelchen Bestseller-Listen aufgetaucht wären. Aber öffentlicher kann eine Familienvergangenheit kaum sein. Und ich bin es gewohnt, dass da einfach sehr offen und auch sehr öffentlich drüber gesprochen wird. Privat? Nein, das ist es nun wirklich nicht. Denkste …
Schon in der ersten Hälfte der Sendung merke ich, dass das Leben meines Großvaters mich stärker beeindruckt als mir bisher klar war. Das liegt auch oder vor allem an Matthias. Zum ersten Mal höre ich von jemandem, der nicht mein Vater ist, was für ein Mann Theo Hespers war. Und dass die Schriften, die er verbreitet hat aus dem Exil – das Widerstandsblatt Kameradschaft – großen Einfluss auf den Widerstand in Deutschland hatte. Dass es für die jungen Leser sogar gefährlich war, in Deutschland mit dieser Zeitschrift erwischt zu werden. Ich höre das alles zum ersten Mal. Mir ist klar, dass das seltsam klingt. Aber so war’s. Mir war die Tragweite dessen, was mein Großvater getan hat einfach nicht bewusst. Und jetzt, wo ich es begreife, stockt mir die Stimme. Ich muss mich beherrschen, nicht doch loszuflennen.
Zum allerersten Mal wird mir wirklich bewusst: Wir sitzen hier, weil es Menschen gab, wie meinen Großvater. Die dafür gekämpft haben, dass wir frei leben, arbeiten und sprechen dürfen. Und die für dieses Engagement nicht nur ihr Leben riskiert haben – sie haben es mit ihrem Leben bezahlt. Ob ich stolz bin auf meinen Großvater werde ich gefragt. Ich hab keine Antwort. Stolz. Für mich ist das so ein von oben herab Gefühl. Wie kann ich da stolz sein? Ich hab doch selber nichts getan. Nein, stolz bin ich nicht. Aber auf eine Art und Weise demütig – und dankbar. Und das erste Mal seit einer sehr langen Zeit wirklich sehr, sehr aufgewühlt…
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