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Episode 11

Kein Weg zurück

Wenn mein Vater von der Flucht und seiner Zeit in Holland spricht, bekommt er oft leuchtende Augen. Für ihn war das alles ein riesiges Abenteuer. Das meiste davon zumindest. Und er freut sich, darüber sprechen zu können: „Ich erlebe das dann alles noch mal“, hat er bei meinem letzten Besuch Anfang Februar gesagt – und sich aufrichtig gefreut. Kein Wunder, schließlich war er damals noch ein kleiner Junge. Die Dramen der Geschichte spielen sich oft zwischen den Zeilen ab. Wie das Drama der Ehe zwischen meinem Großvater und seiner Frau Käthe – meiner Oma.

Das Familienfoto zeigt meine Oma Käthe, meinen Opa Theo Hespers und meinen Baby-Vater Dietrich. Über dem Foto liegt ein Effekt, der zerbrochenes Glas simuliert.

Wenn mein Vater von der Flucht und seiner Zeit in Holland spricht, bekommt er oft leuchtende Augen. Für ihn war das alles ein riesiges Abenteuer. Das meiste davon zumindest. Und er freut sich, darüber sprechen zu können: „Ich erlebe das dann alles noch mal“, hat er bei meinem letzten Besuch Anfang Februar gesagt – und sich aufrichtig gefreut. Kein Wunder, schließlich war er damals noch ein kleiner Junge. Die Dramen der Geschichte spielen sich oft zwischen den Zeilen ab. Wie das Drama der Ehe zwischen meinem Großvater und seiner Frau Käthe – meiner Oma.

Nachdem mein Großvater aus Deutschland geflohen war, hat er sich in der Nähe der holländischen Grenze, im kleinen Örtchen Melick ein Häuschen gesucht. Das hat natürlich ein bisschen gedauert, denn schließlich ist mein Großvater nicht mal eben über die niederländische Grenze marschiert und hat dann sofort Unterstützung gefunden. Einen Monat, also fast den ganzen April 1933, ist er im Kloster Marienthal in der Nähe von Venlo unterkommen, dort war seine Tante, Schwester Christophera, Priorin. Selbstverständlich konnte das kein Dauerzustand sein – als Mann unter katholischen Nonnen. Es musste also etwas passieren. Ob er vielleicht doch nach Deutschland zurück konnte?

Er muss es zumindest gehofft haben, denn in einem Brief an die Verwaltung der Stadt Mönchengladbach versucht er in Erfahrung zu bringen, was mit ihm bei einer Rückkehr wohl passieren würde. Auf diesen Brief gab es allerdings keine Antwort. Dafür aber Informationen von Freunden, die nichts Gutes verhießen. Die Gestapo wartete nur darauf, dass mein Großvater wieder Fuß auf deutschen Boden setzen würde, um ihn zu verhaften. Was also tun?

Zunächst mal musste sich mein Großvater eine Existenz aufbauen. Bei seiner Flucht hatte er nicht viel mitnehmen können. Aber er hatte etwas, das wesentlich wichtiger war als irgendwelche Habseeligkeiten. Mein Großvater hatte Verbindungen. Zum einen über die katholische Kirche und zum anderen über sein langjähriges Engagement in der Jugendbewegung. Und so bekam er sowohl Hilfe vom katholischen Flüchtlingskommitee als auch vom niederländischen Vreedenskring (Friedensring). Mit einer Empfehlung eines jüdischen Freundes aus Mönchengladbach stand mein Großvater dann eines Tages vor Max Behretz. Einem jungen niederländischen Juden, der sich im Vreedenskring engagierte und im Nederlandse Trekkersbond, einem Ableger des deutschen Wandervogels.

Die ersten Verbündeten im Exil

Ich weiß nicht, ob die beiden sofort einen Draht zueinander hatten, aber ich stell mir das gerne so vor. Schließlich sind sie einen langen, schwierigen Weg gemeinsam gegangen. Aber das war natürlich damals noch nicht abzusehen. Im Frühjahr 1933 trifft also mein Großvater in Roermond auf den jungen Max, der meinen Großvater ohne zu zögern unterstützt. Mit seiner Hilfe baut sich Theo Hespers im Exil ein erstes Geschäft auf: er handelt mit vegetarischen Reformartikeln. Damit waren die Voraussetzungen für einen weiteren Schritt geschaffen. Theo wollte und musste die Familie zu sich holen. Heimlich natürlich.

Auch dabei spielt Max Behretz eine entscheidende Rolle. Denn zu dieser Zeit weiß die Gestapo noch nichts von dem jungen Mann, so dass er unerkannt und unbehelligt nach Mönchengladbach spazieren kann. Im Juli 1933 macht sich also Max Behretz auf, meinen Vater und meine Oma von Mönchengladbach aus über die grüne Grenze nach Roermond zu bringen. 37 Kilometer sind es laut Google von Roermond nach Mönchengladbach. Zu Fuß braucht man ungefähr acht Stunden für diese Strecke, vorausgesetzt man macht keine Pause.

Wie genau die Flucht gelaufen ist, weiß ich nicht. Auto scheidet schon mal aus. Zug vielleicht. Max hätte zumindest die Strecke Roermond – Mönchengladbach mit dem Zug reisen können. Aber zurück? Eher nicht. Aber Fahrräder waren damals schon ziemlich en vogue. Vielleicht sind sie mit dem Fahrrad rübergefahren. Aber egal, wie sie das gemacht haben. Es muss ein ziemlich schwieriges Unterfangen gewesen sein. Schließlich war mein Vater damals gerade zweieinhalb Jahre alt. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass man mit einem so kleinen Kind lächelnd über die Grenze schlüpft – und sei sie noch so grün.

Ein Reformhaus zum Überleben

Aber sie haben es geschafft. Die Flucht ist geglückt. Und Ende Juli 1933 hat mein Großvater mit seiner Frau Käthe und seinem Sohn Dietrich – kurz Dieter – eine kleine Bauernkate in Melick bezogen, kurz hinter der holländischen Grenze. Und dort haben auch die ersten Reformartikel gelagert, die mein Großvater zur Tarnung bezog und an reiche jüdische Geschäftsleute in Eindhoven verkaufte. Schließlich musste er irgendwie an Geld kommen, um seine Familie zu ernähren. Es gab allerdings zwei Dinge, die seine Geschäfte massiv gefährdeten: die überall anwesenden Ameisen – und seine eigene Frau.

„Und die Omma, man könnte beinahe sagen in ihrer Primitivheit, Einfachheit, die konnte ja lügen – lügen, die konnte klauen, du glaubst gar nicht. Ich bin nicht umsonst so leichtsinnig geworden durch sie. Sie konnte natürlich auch auf fein machen – was die den Oppa beklaut hatte, schlimm! Ich hab das ja alles mitangesehen als Kind.“

Mein Vater Dirk Hespers über seine Mutter, aus unserem Interview vom 26.12.2014

Was mein Vater da sagt, klingt hart, aber das beschreibt ganz gut, wie das gelaufen ist zwischen meinen Großeltern. Dazu muss man wissen: meine Oma ist in ganz einfachen Verhältnissen groß geworden. Sie konnte lesen und schreiben, aber mehr Schulbildung hat sie kaum genossen. An Politik hatte sie keinerlei Interesse. Und sie hing an ihrem Zuhause in Mönchengladbach. Dem kleinen, beschaulichen Dahl. Ich bin ziemlich sicher: der einzige Grund dafür, dass sie ihre kleine, heile Welt verlassen hatte, war ihr Pflichtbewusstsein ihrem Ehemann gegenüber. Ich hab mich oft gefragt, warum mein Großvater seine Familie überhaupt da mit reingezogen hat. Aber am Ende hatte er keine Wahl: sein Sohn hat ihn erpressbar gemacht. Und das konnte er nicht riskieren. Als er begriffen hatte, dass die Lage für ihn durchaus ernst ist, konnte er keine andere Entscheidung treffen. Und ganz ehrlich: eine Familie versorgen zu müssen macht weder die politische Arbeit noch die Flucht zu einem leichteren Unterfangen. Im Gegenteil.

Von Toffeeblöcken und Ameisen

Meine Großmutter jedenfalls hat versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Und zwar ganz nach ihrem Gutdünken. Geschäftssinn hatte sie ebensowenig wie die Fähigkeit Sprachen zu lernen oder zu einen Haushalt zu führen. Nichtmal Kochen gehörte zu ihren Stärken. Aber meine Oma ging in solchen Fällen ebenso gewitzt wie pragmatisch vor. Denn schließlich waren unter den Reformartikeln auch jede Menge Süßigkeiten. Wer muss da schon kochen können. Und so stopfte sie in sich und meinen Vater alles rein, was eben an Leckereien zur Verfügung stand. Datteln zum Beispiel oder kleine Nougatblöcke mit Toffeefüllung. Die hat vor allem mein Vater besonders gerne gegessen. Und meine Oma hat sich einfach an diesen Vorräten bedient. Vielleicht weil sie fand, dass ihr das einfach zustand für all die Entbehrungen, die sie auf sich genommen hat. Und wahrscheinlich auch, weil sie sich keinerlei Gedanken darüber gemacht hat, dass ihr Mann mit den Lebensmitteln eigentlich Geld verdienen wollte und musste.

Ein Grund, dass mein Vater bis heute von diesen Dingen erzählen kann, ist ein echtes Schockerlebnis, das er als dreijähriger Knirps hatte – und damit kommen wir zur Gefahr Nummer zwei. Er hatte einen dieser Nougatblöcke mit Toffeefüllung ergattert. Mit großen Augen und bester kindlicher Vorfreude macht er sich daran, mit seinen kleinen Fingerchen das goldglänzende Papier abzuwickeln. Voller Genuss beißt er in den Nougatblock. Kurz nachdem seine kleinen Zähnchen das zarte Nougat druchpflügt haben, wird er auf die Toffeefüllung stoßen. Aber statt Toffee ist da – nichts. Leer. Der Nougatblock ist komplett ausgehöhlt! Die Ameisen haben die ganze schöne Nougatstange einfach ausgehöhlt und weggefuttert. Den darauf folgenden Wutanfall eines Dreijährigen kann man sich lebhaft vorstellen. Aber das nur am Rande.

Mit dem Reformhandel als Tarnung war Melick ein perfekter Ort für konspirative Treffen zwischen den niederländischen Friedensaktivisten um Max Behretz und weitere Emigranten und Flüchtlingen aus Deutschland. Denn Melick lag nur wenige Kilometer von der deutsch-holländischen Grenze entfernt. Perfekt für verbündete Besucher aus Mönchengladbach. Genau zu dieser Zeit kam es aber immer häufiger auch zu Entführungen in der Grenzregion. Deshalb haben die niederländischen Behörden meinen Großvater Anfang 1935 dazu aufgefordert, das Grenzgebiet aus Sicherheitsgründen zu verlassen. Es ging also weiter ins Landesinnere – nach Helmond, einen Ort in der Nähe von Eindhoven.

Ein handgreiflicher Ehestreit

In Helmond lebten meine Großeltern mit Klein-Dieter in einer einfachen Zweizimmerwohnung oberhalb einer Gaststätte. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt ziemlich genau vier Jahre alt. Ein Badezimmer gab es nicht. Stattdessen wurde eine Waschschüssel im Flur mit kaltem Wasser gefüllt. Genau das passierte auch an diesem einen Morgen, an den mein Vater sich bis heute ziemlich gut erinnert. Mein Großvater hatte gerade eine Schüssel mit Wasser im Flur geholt und auf einen Stuhl gestellt, um sich zu waschen. Und während er mit freiem Oberkörper über der Schüssel seinem Hygienebedürfnis nachkommt, betritt meine Großmutter die Szene:

„Und dann hat meine Mutter aus irgendnem Grunde, weil die mit so ’ner Idiotie wieder zurück kam, gesagt, Theo, jetzt fahren wir wieder nach Hause. Die war total kindlich in der Vorstellung. Die dachte, jetzt sind wir abenteuerlich ein bisschen in Holland gewesen, jetzt fahren wir wieder nach Hause. Und dann schmiss sie meinem Vater ein Brotmesser an den Körper. Ein Brotmesser.“

Mein Vater erzählt aus seiner Erinnerung, aus dem Interview vom 02.02.2015

Meine Großmutter war allerdings keine besonders begnadete Messerwerferin. Und so hat das Messer meinen Großvater nur mit der flachen Seite getroffen. Aber vor Wut über die Messerattacke ist mein Großvater auf meine Großmutter zugestürmt, hat sie am Hals gepackt, gegen die Wand gedrückt und gewürgt. Ein anderes Mal hat sie meinen Großvater gleich mit einem Fausthieb unter die Nase empfangen. Der, so erzählt es mein Vater, hat sich gerächt, indem er seine blutige Nase an ihrer weißen Bettwäsche abgeputzt hat.

Die Situation meiner Oma im Exil

Für alle, denen das unangenehm ist zu lesen: mir ist es tatsächlich auch unangenehm, das zu schreiben. Das sind intime Details aus dem Leben einer Familie. Darüber spricht man nicht. Trotzdem will ich das erzählen. Weil eben dieser Widerstandskämpfer Theo Hespers ein Privatleben hatte. Und weil es klar macht: das war kein Spaziergang diese Flucht. In alten schwarzweiß Filmen sieht man immer Männer politische Pläne schmieden, in irgendwelchen düsteren Hinterzimmern rauchend über Papiere gebeugt. Aber es gab auch Frauen zu diesen Männern – und Kinder. Und die mussten da auch mit leben. Und deren Geschichten werden so gut wie nie erzählt. Meine Oma ist auf den ersten Blick sicher nicht die Heldin dieser Geschichte. Sie hat das alles nicht freiwillig gemacht. Und sie hat das vor allem alles nicht verstehen können. Umso mehr hat ihr diese Geschichte abverlangt.

Das kleine, fröhliche Käthchen mit den wasserblauen Augen und der Proletarierschnauze hat Zeit ihres Lebens nicht niederländisch gelernt. Sie war immer fremd, orientierungslos und abhängig auf dieser Flucht. Und am Ende wollte sie nur eins: mit ihrem kleinen Sohn zurück nach Hause zu ihrer Familie. Über die Wahl der Mittel lässt sich sicher streiten. Aber sie hat das auch nicht anders gelernt. Da wo sie her kam, aus dem Arbeitermilleu, war so ein Umgang miteinander ziemlich gewöhnlich. Welche Möglichkeiten hatte sie also, ihren Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen? Ich schätze, die haben in der damaligen Situation nicht allzu viel gezählt. Diese Szenen sind nicht schön. Sie sind nicht Hollywood und sie sind nicht Hochglanz. Aber sie gehören dazu. Und auch sie erzählen eine Geschichte.

Personen:

Theo Hespers – mein Großvater

Käthe Hespers – meine Großmutter

Dietrich Hespers (Dieter) – mein Vater

Max Behretz – Freund von Theo Hespers

Artikel als Podcast hören:

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danke für euer tolles Feedback auf meinen Blog. Und entschuldigt, wenn es manchmal etwas länger dauert. Ich habe so viel Material hier liegen, das ich sichten und studieren muss, das lässt sich manchmal nicht so leicht in kleine Häppchen aufteilen. Allein deshab freue ich mich über jedes nette Wort von euch, weil es mir signalisiert, dass ich das hier nicht umsonst mache. Falls ihr ein bisschen Zeit habt, lasst mir doch hin und wieder einen Kommentar da, damit ich weiß, dass hier Menschen lesen. Oder auch Fragen, Kritik oder Anregungen. Jedes Feedback ist willkommen.

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