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Episode 25

Alfred und die Spitzel (2)

Der junge Alfred Katzenstein wird von seinem Vater aus dem Gefängnis in Mönchengladbach freigekauft. Bei Verwandten in Frankreich soll er in Sicherheit gebracht werden. Aber Alfred hat andere Pläne. Er geht nach Paris, um sich dort politisch zu engagieren – und wird erneut verhaftet …

Der junge Alfred Katzenstein 1934 bei meinem Großvater in den Niederlanden. Ein Portraitfoto und ein Foto, das ihn von der Seite zeigt. Ein junger Mann Anfang 20 mit kurzen dunkeln Locken.

Dass es nicht zurück nach Mönchengladbach geht, sondern weiter nach Saarbrücken ist für den jungen Alfred Katzenstein zunächst ein Schock. Aber seine Eltern sind fest entschlossen. Im Gegensatz zu ihrem Sohn haben sie längst erkannt, dass die Nazis keinen Spaß verstehen. Egal ob Schüler oder langjähriger Parteigenosse – wer auch nur im Ansatz Kontakt zu Kommunisten hat, wird gnadenlos verfolgt, verhaftet und verurteilt. Auch vor Morden schreckt die Gestapo nicht zurück.

In Saarbrücken telefoniert Alfreds Vater mit einem seiner Onkel. Alex Alexander ist schon ein alter Mann, der mit seinen drei erwachsenen, aber unverheirateten Töchtern in Calais wohnt. Der Onkel erklärt sich bereit, Alfred für eine Weile bei sich aufzunehmen. Aber lange hält es der junge Katzenstein dort nicht aus. In der französischen „Humanité“ findet er Adressen, an denen sich ausländische Arbeiter treffen. Auch deutsche Flüchtlinge sind dabei. Alfred beschließt, nach Paris zu gehen, um dort vielleicht für das jüdische Hilfskommiteé zu arbeiten. Mit Hilfe von Marthe, der ältesten Tochter seines Großonkels, findet er ein kleines Zimmer im Quartier Latin.

Alfred beginnt, ehrenamtlich beim Barbusse Kommitée zu arbeiten, wo er gelegentlich auch den Schriftsteller Henri Barbusse selbst trifft. Er bereitet den Weltkongress gegen Krieg und Faschismus in Salle Pleyel mit vor. Die Veranstaltung endet mit einer großen Demonstration im Wald von Compiègne, dem Ort des Waffenstillstands nach dem 1. Weltkrieg. Für Alfred eine extrem aufregende Zeit, mit vielen neuen Freunden – und einer neuen Affäre. Trotzdem vermisst er seine Erna. Nur wenige Tage nach dem Kongress erhält er eine Nachricht von seiner großen Liebe. Die Gruppe von Ernst Schmidt (Kommunistischer Jugendverband KJV) sei „hochgegangen“ und sie damit selbst in Gefahr. Für Alfred gibt es nur eine Lösung: er muss nach Mönchengladbach fahren und seine Erna da raus holen – und das macht er dann auch:

„An Einzelheiten erinnere ich mich nicht mehr, nur noch, daß ich den Bruder von Ernst Schmidt in der Hohenzollernallee traf, er war in HJ-Uniform und grüßte mich mit ‚Heil Hitler‘. Unwillkürlich durch die Grußbewegung veranlaßt, grüßte ich, wie ich es in Paris gelernt hatte, mit der geballten Faust. Er war zu Tode erschrocken. […] Rückblickend erkennt man deutlich, wie leichtsinnig ich war, nach Gladbach zurückzukehren, und wie wenig ich mir eine richtige Vorstellung von den veränderten Verhältnissen gemacht hatte.“

Alfred Katzenstein in seinem Buch „Einblicke“, S. 41

Als ich diese Stelle in Alfreds Biografie lese, halte ich den Atem an. Ernsthaft. Es ist ein Wunder, dass sie ihn nicht erwischt haben. Da entgeht er nur knapp einer mehrjährigen Strafe im Zuchthaus – wenn nicht gar Schlimmerem, seine Eltern schaffen ihn in Sicherheit – und dann spaziert er einfach nach Hause, um seine große Liebe zu retten. Das ist natürlich total rührend. Und es ist wahrscheinlich auch das, was man nun mal tut, wenn man gerade 18 Jahre alt ist und glaubt, die Welt könne einem nichts anhaben. Aber es ist auch so unglaublich erschreckend.

Ich meine, sie haben ihn ja für eine Lapalie (aus heutiger Sicht) verhaftet und ins Gefängnis gesteckt – und immer noch fällt es ihm schwer zu begreifen, dass die Zeiten sich geändert haben. Was, wenn das heute auch so ist? Was, wenn wir zu naiv sind, um zu begreifen, ab wann es wirklich gefährlich wird? Ich bin im Grunde meines Herzens leider totaler Optimist – ich möchte einfach gerne glauben, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland es nicht zulassen werden, dass wir wieder in solche Verhältnisse abrutschen. Aber was, wenn ich mich irre?

Rückblickend jedenfalls weiß Alfred ziemlich genau, was ihn und Erna gerettet hat:

„Daß diese Episode nicht in einer Tragödie endete, ist wahrscheinlich nur der Tatsache zuzuschreiben, daß in diesem halben Jahr nach der Machtübernahme die Bürokratie der Nazis noch nicht richtig auf Touren gekommen war. Ein oder zwei Jahre später hätte mir dieses Capriccio zweifellos KZ eingetragen und dann wahrscheinlich den Kopf gekostet.“

Alfred Katzenstein in seinem Buch „Einblicke“, S. 41

Und wieder ins Gefängnis

Auch wenn Alfred in seinem Buch als Datum den 14. Februar 1934 angibt, vermute ich, er meint den 6. Februar 1934. An diesem Tag gab es in Frankreich gewaltige Unruhen. Alfred schreibt über den Tag:

„Als am 14. Februar die Kommunisten und Sozialisten eine gewaltige Gegendemonstration gegen die faschistischen Putschversuche organisierten, war Ernst nicht zu halten. Er meinte, wir brauchten ja als Ausländer nicht mitzudemonstrieren, aber wir sollten uns das Spektakel doch wenigstens ansehen.“

Alfred Katzenstein in seinem Buch „Einblicke“, S. 46

Die Idee war allerdings nicht ganz so super, wie sie klingt. Bei den Unruhen am 6. Februar 1934 wurden 15 Demonstranten getötet und über 2000 verletzt. Ausgerechnet bei dieser Demonstration, die Alfred und seine Freunde nur als Zuschauer besuchen wollten, werden sie von der Geheimpolizei festgenommen. In einem Mannschaftswagen werden sie in eine Polizeistation gefahren. Beim Aussteigen „empfängt“ sie ein Spalier von Garde mobil mit Fußtritten und Schlägen auf den Kopf. Insgesamt wiederholt sich das Prozedere mehrmals, dabei geht es mit immer mehr Gefangenen von einer Polizeistation zur nächsten.

„So wurden wir durch mehrere Polizeistationen geschleppt, bis wir schließlich in einem Gefängnis landeten. Hier wurden wir zerschlagen und verludert der Presse vorgeführt. (Der ‚Intransigeant*‘ brachte am nächsten Tag ein Bild von Ernst und mir mit der Unterschrift ‚Ausländische Kommunisten als Rädelsführer‘.)“

Alfred Katzenstein in seinem Buch „Einblicke“, S. 47

Auch in den Gefängniszellen gingen die Prügeleien weiter. Als er am nächsten Morgen dem Untersuchungsrichter vorgeführt wird, hat der bereits Alfreds Ausweisung beantragt. Noch am gleichen Abend wird Alfred mit zahlreichen anderen an die belgische Grenze gebracht mit dem Hinweis, dass man sie sofort an die Nazis ausliefern würde, sollten sie noch ein mal in Frankreich auftauchen. Wenige Tage später (Alfred schreibt am 17. Februar 1934) trifft Alfred dann in Roermond ein – und schlägt bei meinem Großvater auf.

„Da mein Paß kein belgisches Visum hatte, waren wir beide (also Alfred und Ernst) illegal in Belgien. Deshalb entschieden wir uns, zu Theo Hespers nach Roermond (Holland) zu fahren, da zumindest ich mit meinem Paß dort legal leben konnte. So trafen wir also am 17. Februar in Roermond ein und begrüßten den erstaunten Theo, seine Frau und ihren kleinen Sohn Dieter.“

Alfred Katzenstein in seinem Buch „Einblicke“, S. 47

Ein Sommer in Roermond

Bei meinem Großvater lernt Alfred dann auch Max Berets kennen. Und weil Alfred im Exil ja auch ein bisschen was tun muss, schlagen die beiden ihm vor, doch bei Max in die Lehre zu gehen. Der ist nämlich selbständiger Radioreparateur und hat einen ziemlich guten Ruf in Roermond und Umgebung. So findet sich der doch eher intellektuell angehauchte Alfred also plötzlich in einer Werkstatt wieder:

„Max hatte eine Werkstatt hinter dem Haus seiner Eltern, ganz dicht an der Maas gelegen. Dort verbrachte ich nun meine Tage und versuchte zu begreifen, was so ein Radiogerät zum Spielen brachte, und wie man Störungen entdecken kann. Ich stellte mich sicher nicht übermäßig klug an, und nachdem ich einige Male einen beträchtlichen elektrischen Schlag bekommen hatte, hatte ich ganz schön Angst vor den Apparaten. So war ich Max wahrscheinlich mehr eine Bürde als eine Hilfe, aber er blieb gleichmäßig freundlich.“

Alfred Katzenstein in seinem Buch „Einblicke“, S. 49

Noch schlimmer war es für Alfred, auf’s Dach zu müssen, um Antennen einzurichten. Während Max sich wie eine Katze über die gefährlichen Dächer bewegte, hatte Alfred schlicht und ergreifend die Hosen voll. Aber Max schien das wirklich nicht sonderlich zu stören, denn die beiden verbringen auch ihre Abende zusammen – meistens bei meinem Großvater Theo, meiner Oma Käthe und meinem Vater, der damals erst drei Jahre alt ist und die ungeteilte Aufmerksamkeit der Anwesenden genießt – zumindest, bis er ins Bett muss.

Schwarzweißfotografie einer Gruppe junger Menschen

Max Berets (hi. li.) und Alfred Katzenstein (hi. re.) mit Freunden – Max trägt damals wohl eine ziemlich hippe Lederjacke.

Als es Sommer wird, wir befinden uns immer noch im Jahr 1934, kommen dann immer mehr Freunde meines Großvaters aus Mönchengladbach.

„Immer öfter kamen die Freunde begierig darauf, daß wir ihnen antifaschistische Literatur beschafften. Bald bekamen wir dann auch Kontakte zu Vertretern der deutschen Partei in Holland, die uns spezielle auf hauchdünnem Papier gedruckte Broschüren besorgten, welche die Freunde dann versteckt mit über die Grenze nahmen.“

Alfred Katzenstein in seinem Buch „Einblicke“, S. 51

Da beginnt sie also – die politische Arbeit meines Großvaters im Exil. Ziemlich genau festgehalten in einer privaten Biografie. Und irgendwie kann ich mir die Szene so langsam auch richtig gut vorstellen. Das kleine abgeratzte Häuschen, das Zusammenleben, den Alltag. Und bis hier hin klingt das – trotz der krassen Erlebnisse, die Alfred in Paris hatte – eigentlich ganz positiv. Aber die Gruppe steht längst unter Beobachtung.

„Alles war sehr schön! Wir waren eine herrliche Gemeinschaft, in die auch Paul und Elli (meine Geschwister) aufgenommen waren. Da blieben eines Tages die Rheydter Freunde zur verabredeten Zeit aus.“

Alfred Katzenstein in seinem Buch „Einblicke“, S. 51

Ein Spitzel fliegt auf

Statt der Freunde aus Rheydt (inzwischen ein Stadtteil von Mönchengladbach), wird Alfred von einem ihm unbekannten Mann kontaktiert. Er nennt sich Johann Kurz und erklärt, dass einer der Freunde namens Otto Engels ihn geschickt hätte. Otto selber sei krank geworden:

„In meiner Naivität glaubte ich ihm und verabredete mit ihm, daß ich „jemand“ zu einem Treff mit Otto im Vorraum des Kinos auf der Hindenburgstraße schicken wolle. Aus irgendeinem Gefühl heraus tat sich so, als würe ich einen männlichen Freund schicken, obwohl ich vorhatte, meine Schwester zum Stelldichein zu schicken.“

Alfred Katzenstein in seinem Buch „Einblicke“, S. 51

Auch diesmal hat Alfred mehr Glück als Verstand. Denn er schickt tatsächlich seine Schwester zu dem Treffen. Gemeinsam mit einer Freundin macht sie sich auf den Weg ins Kino, um Otto dort zu treffen. Und da steht er dann, gut sichtbar vor einem Kinoplakat. Aber irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Als Elli und ihre Freudin auf ihn zugehen, macht er ein so abweisendes und fremdes Gesicht, dass sich die beiden jungen Frauen nicht trauen, ihn anzusprechen. Sie stellen sich neben ihn, starren auf ein Filmplakat und warten auf eine Reaktion von Otto. Nichts. Er bleibt starr und stumm neben ihnen stehen. Weil das Otto so gar nicht ähnlich sieht, bekommen die beiden Freundinnen Angst und verlassen plaudernd das Kino, um nicht aufzufallen. Als Alfred später erfährt, was vorgefallen ist, macht er sich schwere Vorwürfe.

Unterdessen taucht der Gestapo-Agent erneut bei Alfred auf. Er will sich erkundigen, warum das Treffen mit Otto geplatzt und niemand gekommen ist. Da Alfred inzwischen gewarnt ist, hat er zusammen mit meinem Großvater Theo und seinem Freund Max einen Plan ausgeheckt. Sie locken den Gestapo-Spitzel in eine Falle:

„Ich sagte dem Johann Kurz, wenn unser Freund Otto schon nicht nach Roermond kommen könne, so möge er doch wenigstens an den Grenzweg im Dahlheimer Wald kommen, wir würden ihn dort treffen, denn wir hätten Dinge zu besprechen, die nur zwischen uns besprochen werden könnten.“

Alfred Katzenstein in seinem Buch „Einblicke“, S. 52

Glücklicherweise haben die drei bei ihren Plänen fachkundige Unterstützung. Denn bei allem, was ich bisher über das Trio gelesen habe, sind sie keine großen Meister der Taktik. Sie bitten Max großen Bruder Albert um Hilfe. Der war einige Jahre als Freiwilliger in der französischen Fremdenlegion, besitzt eine Waffe und kennt sich in militärischen Dingen aus. Er legt sich, lange vor dem geplanten Treffen, am vereinbarten Treffpunkt auf die Lauer. Sollte Otto Engels wirklich dort auftauchen, würde er versuchen, ihm zur Flucht zu verhelfen. Aber Albert kommt allein zurück:

„Er berichtete, daß er mit 7-8 Beamten in Zivil eingetroffen sei. Diese hätten ihn an einen Baum gebunden und sich im Kreis um ihn herum versteckt. Es sei daher an eine Flucht nicht zu denken gewesen.“

Alfred Katzenstein in seinem Buch „Einblicke“, S. 52

Statt die Sache ad acta zu legen, kommt der Gestapo-Spitzel erneut nach Roermond. Er ist ein wenig ungehalten, dass Alfred jetzt auch das zweite Treffen hat platzen lassen und will ihn zur Rede stellen. Aber auch für diesen Fall haben die Freunde vorgesorgt. Sie lotsen ihn kurzerhand auf Umwegen in einen Raum hinter Max Radiowerkstatt:

„Wir erklärten ihm, dass niemand hören könne, was hier vorgehe, und zeigten ihm, daß der Fluß in unmittelbarer Nähe vorbeifloß. Dann sagten wir ihm auf den Kopf zu, er sei ein Gestapo-Spitzel. […] Wir erklärten ihm, daß wir es der Gestapo unmöglich machen würden, ihn weiter als Spitzel zu benutzen. Max fotografierte ihn und außerdem schrieben wir in seinen Reisepaß ‚Vorsicht, Polizeispitzel‘.“

Alfred Katzenstein in seinem Buch „Einblicke“, S. 53

Kopien des Fotos kursierten dann später in Mönchengladbach und Rheydt, um weitere Freunde vor dem Spitzel zu warnen. Allerdings hat die Geschichte ein Nachspiel. Die niederländischen Behörden zitieren Theo und Alfred zu sich. Sie entziehen ihnen die Aufenthaltsgenehmigung für die Grenzprovinz Limburg – und Theo muss mit seiner Familie „Over de Waterkant„.

Ob die Geschichte in all ihren Details so stimmt, das weiß ich nicht. Ich kann zum Beispiel das Foto in der „L’Intransigeant*“, von dem Alfred Katzenstein spricht, nicht finden. Leider kann ich aber auch nicht genug französisch, um herauszufinden, ob er nicht doch auf einem der Fotos zu sehen ist und sich nur falsch an die Bildunterschrift erinnert. Vielleicht war es auch ein Teil des Artikels. Oder es gab Lokalausgaben. Wer Lust hat danach zu suche: Ich habe die digitalisierten Ausgaben im Nationalarchiv verlinkt. Dass die Geschichte mit dem Polizeispitzel stimmt, kann ich allerdings relativ sicher sagen. Sie taucht in den Verhörprotokollen auf.


Nachtrag vom 06. Januar 2017:

Endlich habe ich die genaue Passage in den Verhörprotokollen von Max Behretz wiedergefunden, in der die Geschichte mit dem Gestapo-Spitzel Kurz beschrieben wird. Sie befindet sich in der am 6. Mai 1942 gegen Max Behretz verfassten Anklageschrift:

„Als sich Kurz zur festgesetzten Zeit dort einfand, wurde er bereits an der Grenze vom Angeschuldigten in Empfang genommen und in ein Zimmer geführt, in dem Hespers und Katzenstein ihn erwarteten. Hier wurde er, nachdem das Zimmer abgeschlossen worden war, als Polizeispitzel bezeichnet und einer Durchsuchung unterzogen. Man nahm ihm auch seinen deutschen Paß ab, den der Angeschuldigte dadurch unbrauchbar machte, dass er auf mehreren Seiten in großer Schrift das Wort „Polizeispitzel“ eintrug. Kurz wurde darauf von dem Angeschuldigten noch mehrmals mit der Faust ins Gesicht geschlagen und an die Reichsgrenze gebracht, wo er seinen Paß zurück erhielt.“

Aus der Anklageschrift gegen Max Behretz vom 06. Mai 1942

Es ist sogar ein Datum zum Vorfall zu finden. Das Ganze geschah am 20. September 1934 und fällt damit genau in den Zeitraum, in dem ein großer Teil der Gruppe um meinen Großvater verhaftet wird. In den Verhören bestreitet Max Behretz im übrigen, Johann Kurz geschlagen zu haben. Da Max Behretz überzeugter Pazifist war, halte ich seine Aussage für glaubwürdig. Und mal ehrlich, wie wäre es wohl bei den Kameraden des Polizeispitzels Johann Kurz rübergekommen, wenn das alles gewaltfrei über die Bühne gegangen wäre? Wenn sie ihm seinen Pass hätten wegnehmen könne, ohne ihm dabei Gewalt anzutun? Er hätte wahrscheinlich als Weichei und Jammerlappen dagestanden.

Personen:

Alfred Katzenstein – jüdischer Kommunist aus Mönchengladbach

Theo Hespers – Widerstandskämpfer und mein Großvater

Max Berets – jüdischer Pazifist, Radioreperateur, Freund von Theo

Albert Berets – älterer Bruder von Max

Johann Kurz – Spitzel der Gestapo


Epilog

Bewusst habe ich Alfred Katzenstein zwei mal in meinem Leben gesehen. Bei unserer ersten Begegnung war ich elf Jahre alt. Es war Ostern 1990, ein halbes Jahr nachdem die Mauer gefallen war. Alfred lebte in Berlin-Pankow und wir sind mit dem VW-Bus dort hin gefahren, um ihn zu besuchen. An Alfred selber erinnere ich mich aber kaum. Dafür um so mehr daran, wie reich ich plötzlich mit meinem bisschen Taschengeld war, wie grau mir Berlin vorkam, an das Tramfahren, an den Besuch im Planetarium und an eine 10-DDR-Pfennig-Münze, die so leicht war wie ein Plastikjeton. Ich weiß noch, wie der Altbau roch, in dem wir geschlafen haben, und ich erinnere mich an das Fischgrätparkett und die hohen Decken in der Wohnung der Katzensteins.

Bei unserer zweiten Begegnung waren die Katzensteins bei uns in Mönchengladbach zu Besuch. Damals kam nicht nur Alfred mit seiner Frau, sondern auch seine beiden Geschwister Elli und Paul waren bei uns. Sie sprachen Deutsch mit stark amerikanischem Akzent. Elli trug eine dunkle Sonnenbrille. Alle zusammen saßen wir in unserem Garten in Mönchengladbach. 13 Jahre war ich da – es müsste also 1991 gewesen sein.

Die Katzensteins waren als Ehemalige zu einem Empfang im Stiftisch Humanistischen Gymnasium in Mönchengladbach eingeladen. Mein Großvater hat dieses Gymnasium besucht, Alfred hat dieses Gymnasium besucht und nun war auch ich an dieser Schule. Als einzige in meiner Klasse habe ich an dem Tag frei bekommen, um bei Alfred und seinen Geschwistern zu sein. Ich hatte kurze blonde Haare und angefangen, mir meine Augen mit schwarzem Kajal anzumalen. Mir kam das damals vor wie ein sehr heiliger Moment. Aber ich konnte niemandem so richtig erklären, warum jetzt ausgerechnet ich da hin durfte oder musste. Und die Geschichte, dass mein Großvater ein Widerstandskämpfer war und von den Nazis umgebracht wurde, empfanden wohl die meisten meiner Mitschüler als Wichtigtuerei. Wie soll man auch in dem Alter begreifen, was das eigentlich bedeutet?

Es gibt ein Foto von diesem Tag in einer Ausgabe der Rheinischen Post. Ich neben Alfred Katzenstein auf der Hindenburgstraße – der Straße, in der Alfred fast 60 Jahre zuvor aufgewachsen ist. Ich mochte ihn. Sehr sogar. Als wir im Januar 2000 die Nachricht von seinem Tod erhalten haben, ist mir das auf eine unwirkliche Weise sehr nah gegangen. Es ist schon erstaunlich, wie viel Verbundenheit entstehen kann über gemeinsam erlebte Geschichten. Selbst dann, wenn man sie gar nicht gemeinsam erlebt hat.

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Ein Auszug aus den Erinnerungen von Alfred Katzenstein aus der Haft im Gestapogefängnis in Düsseldorf. Daneben ein Portraitfoto von Alfred Katzenstein mit Anfang 20

Episode 24

Alfred und die Spitzel (1)

Alfred Katzenstein ist gerade mal 18 Jahre alt als er von der Gestapo in Mönchengladbach verhaftet wird. Er hat Flugblätter abgetippt und weiterverbreitet, die der Version der Nazis widersprechen, ein Kommunist hätte den Reichtag angezündet. Im Gefängnis erhält Alfred überlebenswichtige Tipps.

zur Folge

15-05-2016
Links ein schwarzweiß Foto von Dirk Hespers als zweijährigem Kind, rechts ein Bild von Dirk Hespers als 84-jähriger Mann.

Episode 44

„Der Hespers sieht genau aus wie ein Jude“

Am Tag nach dem rechtsextremen Anschlag von Hanau, kann ich zu dem Angriff selbst noch nicht viel sagen. Aber ich muss an eine Geschichte denken, die mein Vater mir erzählt hat. Eine Geschichte über Ausgrenzung. Und eine Geschichte, über ein Nein mit großer Wirkung.

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21-02-2020
Die Titelseite der Widerstandszeitschrift: Zu sehen ist ein großes weißes K auf grünem Grund im Hintergrund, darüber einmal das Wort Kameradschaft. Rechts daneben ist die erste Seite des darin enthaltenen Artikels "Ist Hitler legal?" zu sehen. Den Artikel lese ich in der Podcastfolge vor.

Episode 38

„Ist Hitler legal?“

In einem Artikel von 1938 fragt ein Autor, ob Hitler legal an die Macht gekommen sei. Eine Frage, die hypothetisch scheint. Denn sie ändert nichts an den Umständen. Um katholischen Widerstand zu legitimieren, ist die Frage allerdings entscheidend.

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03-06-2018

Lesungen & Vorträge

Weitere Lesungen für 2024 sind ebenfalls in Planung. Anfragen gerne über den Suhrkamp Verlag.