Das Schöne an Recherche ist: All die Dokumente und das Wissen darin zu entdecken. Der Nachteil: Das alles muss gesichtet, eingeordnet und sortiert werden, bevor es eine nächste Podcastfolge gibt.
Fünf Monate ist es jetzt her, dass ich das Blog gestartet hab. Die meiste Zeit ist es mir gelungen, wöchentlich zu schreiben. Grade hängt‘s. Das liegt vor allem daran, dass sich mein Schreibtisch biegt unter dem Material, das ich inzwischen rangeschafft habe. Ich komm einfach nicht nach mit sichten, lesen und schreiben.
Und jetzt sitze ich wieder im Zug nach Berlin, um noch mehr Unterlagen zu besorgen. Denn im Bundesarchiv liegen rund 3.000 Seiten Material zum Prozess gegen Theo Hespers, also sofern man sowas Prozess nennen kann, denn mein Großvater hatte nicht mal einen Verteidiger. Es wäre natürlich einfacher gewesen, sich das alles in Kopie zuschicken zu lassen, von dem Geld für die Kopien könnte ich allerdings eine kleine Weltreise finanzieren. Also fahr ich hin und werde mich die nächsten zwei Tage damit beschäftigen, in altem Papier zu wühlen.
Ich bin gespannt, was da wohl noch alles auftaucht. Vor zwei Monaten hat mein Vater mir ein Buch oder besser eine Schriftensammlung mitgegeben. Invertito heißt das Werk und wird herausgegeben vom FHG, dem Fachverband für Homosexualität und Geschichte. In der Ausgabe von 2006 beschreibt Andreas Pretzel in einem Kapitel mit einem Thema, das in der Aufklärung um die Verbrechen der NS-Zeit sagen wir großräumig umfahren wurde. Die Verfolgung von Homosexuellen. Gefühlt ist es so, dass mit diesem Stichwort die Aufklärung auch schon beendet war. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht mal daran erinnern, in den unzähligen Geschichtsstunden über den Zweiten Weltkrieg jemals das Wort Homosexuell gehört zu haben.
Wirklich spannend ist: der Artikel von Andreas Pretzel handelt auch von meinen Großvater. Weil er jungen Deutschen geholfen hat, im niederländischen Exil zurechtzukommen. Er hat sich zum Beispiel, zusammen mit Hans Ebeling und Werner Schuckmann, darum gekümmert, dass sie arbeiten und damit ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Zum Beispiel indem sie mitgeholfen haben, seine Widerstandszeitschrift herzustellen und zu verbreiten. Die Kontakte kamen über den Mitherausgeber Hans Ebeling zustande. Die Bündische Jugend war für schwule Männer und lesbische Frauen mitunter die einzige Möglichkeit, sich zu treffen und in Kontakt zu kommen.
Dass es diese Kontakte gab, lässt sich durch die Protokolle belegen, die im Bundesarchiv in Berlin liegen. Da steht natürlich nichts über die sexuelle Orientierung der Personen. Also nicht direkt zumindest. Aber wenn jemand aufflog, war er natürlich erpressbar. Und um gar nicht erst aufzufliegen, musste man sich auch natürlich schützen oder eben eine Position im System ergattern, in der man nahezu unantastbar war. Und dieser Umstand hat einige junge Männer, die bei meinem Großvater und Hans Ebeling Zuflucht gesucht und auch gefunden haben, dazu gebracht, der Gestapo Details über meinen Großvater, Hans Ebeling und andere beteiligte an der Kameradschaft zu verraten. Details, die im Prozess natürlich gegen meinen Großvater verwendet wurden.
In den Fußnoten dieses wissenschaftlichen Texts sind ziemlich viele Verweise auf Akten, die meinen Großvater betreffen. Seitdem bin ich mehr als sicher, dass das, was mir vorliegt, unvollständig ist. Einen Monat hat es jetzt gedauert, alle Einzelheiten zu klären und einen Termin zu finden, um nach Berlin fahren zu können.
Was auch noch auf meiner Agenda steht: auch in England gibt es Unterlagen über meinen Großvater. Mein Vater sagt oft nicht ohne stolz, dass Theo mit den Engländern zusammengearbeitet hat, mit dem SIS. Ich würde das natürlich gerne belegen können. Ein erster – zugegebenermaßen eher naiver Versuch – Informationen von Seiten des Secret Service zu bekommen, ist gescheitert. Die haben nicht mal eine Pressestelle – aber was will auch ein Geheimdienst mit einer Pressestelle. Aber ich habe immerhin Antwort bekommen vom britischen Außenministerium. In der Mail heißt es, sie werden weder bestätigen noch dementieren, dass mein Großvater für den SIS gearbeitet hat. Das war erwartbar, ist aber natürlich trotzdem enttäuschend.
Einige Wochen später habe ich noch eine Mail vom britischen Außenministerium erhalten. Im Nationalarchiv in London liegen tatsächlich Unterlagen zu meinem Großvater. Soweit ich das der Mail entnehmen kann, ist er zumindest auf einer Informantenliste des SOE geführt. Auch diese Unterlagen will ich mir besorgen.
Zu meiner Oma gibt es ebenfalls eine Akte. Die liegt in einem Archiv in Duisburg. Auch da muss ich eine Woche vorher bescheid sagen, damit sie mir die Akte raussuchen und ich Einsicht nehmen kann. Denn es gibt ein paar kuriose Anekdoten zu den Verhören meiner Großmutter und auch da würde ich einfach gerne wissen, wie viel Legende dabei ist, beziehungsweise, was davon jetzt tatsächlich protokolliert wurde.
Und damit ich mir dieses ganze Privatvergnügen leisten kann, habe ich noch ein kleines Feature über meinen Großvater für DRadio Wissen gemacht. 20 Minuten sind viel Zeit und aufwendig in der Produktion, aber bei weitem nicht genug Zeit, um die Geschichte vollständig zu erzählen. Deshalb geht es am Freitag (17.4.2015, ab 18:15 Uhr in der Sendung „Einhundert“) wirklich nur um meinen Großvater. Alles weitere dann, wenn ich die Akten im Bundesarchiv Berlin fertig gesichtet – und in meinem Kopf sortiert habe. Danke für eure Geduld!
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