Mein Großvater Theo Hespers kommt aus einer Familie, die damals wohl als kleinbürgerlich bezeichnet worden wäre. Eine Kaufmanns-Familie, streng katholisch, mit einem herrischen Vater als Haushaltsvorstand und Verwandten in den Diensten der katholischen Kirche. Meine Oma Käthe hingegen kommt aus einem sogenannten Proletarierhaushalt. Der Vater ist ein Handwerker, durchaus gut situiert, aber eben nicht so gebildet wie die Menschen, die dem Bürgertum zugerechnet werden. Meine Großeltern sind damit ein eher ungewöhnliches Paar.
Wer war mein Großvater eigentlich, bevor er zum Helden wurde? Wie hat er meine Oma kennengelernt? Und was hat die beiden verbunden? Denn eins ist klar: die zwei müssen ziemlich verschieden gewesen sein. Meine Oma habe ich nämlich noch kennengelernt. Wenn auch in einem bereits ziemlich dementen Stadium. Und am besten erinnere ich mich an ihre klaren, hellblauen Augen.
Und noch etwas war ziemlich kennzeichnend für meine Oma: ihre O-Beine. Damit hat sie jedem Fußballspieler Konkurrenz gemacht. Sie war auch nicht besonders groß, weshalb wir sie immer die Kleine Oma nannten. Damit war immer eindeutig klar, dass die Mutter meines Vaters gemeint war. Dafür war sie recht stämmig gebaut. Sie hatte breite Hüften und einen riesigen Busen. Und obwohl sie nicht dick war, sah sie immer ein bisschen quadratisch aus.
Lustig war sie auch. Wobei ich mich daran nicht so recht erinnern kann. Alles woran ich mich erinnere ist, dass sie pausenlos ihr Geburtsdatum aufsage – da war sie sehr stolz drauf: „Am sechzehnten im sechsten Nullsechs!“, sagte sie dann und bei jeder „sechs“, stupste sie rhythmisch ihren Gehstock auf den Boden. Die Kleine Oma wohnte ganz in der Nähe und wir sind tatsächlich relativ oft bei ihr vorbeigefahren – oder gelaufen.
Das absolute Highlight in ihrer Wohnung war der alte schwarzweiß Fernseher. Drei Programme, kein Bild ohne Schnee. Aber wenn die Zeilen anfingen zu laufen, dann durfte man immer oben drauf hauen. Und die Knöpfe machten so ein lustiges Klack-Geräusch beim Draufdrücken. Da war es ganz egal, dass man eh nur zwischen drei Programmen wählen konnte. Außerdem standen überall Artikel aus dem Reformhaus rum. Meine Oma schwor auf Siliceagel für ihr Bindegewebe. Und einen knirschenden Trunk aus Heilerde. Ihre freundlich dargebotenen Süßigkeiten lehnten wir aber ab: Datteln und Früchteriegel. Igitt.
Als junge Frau muss sie eine besondere Faszination auf meinen Großvater gehabt haben. Sie war laut, schlagfertig, lachte gerne und liebte die Natur. Ihr Vater war Schreiner. Und auch der Rest der Familie stammte aus dem Handwerker-Millieu. Damals reichte für ein Mädchen wie meine Oma die Volksschule. Acht Jahre. Lesen, schreiben, ein bisschen rechnen. Mehr musste ein Mädchen nicht können. Wie viele andere Deutsche auch war sie glühende Verehrerin des damaligen Kaisers. Das Kaiserlied konnte sie auch später noch trotz fortschreitender Demenz wie auf Knopfdruck abspulen. Und weil es so etwas wie Sportvereine in dem Maße noch nicht gab, organisierten sich die Teenies der damaligen Zeit in Jugendbünden.
Mönchengladbach war stark katholisch geprägt. Und weil sich das so gehörte für ein Arbeiterkind, landete meine Oma im Jungborn. Das wiederum ist ziemlich erstaunlich. Wir reden immerhin von einem katholischen Jugendbund, der Mädchen aufnimmt. Und das immerhin schon seit 1913. Für die damalige Zeit absolut revolutionär! Die Gruppen der Mädchen und Jungen aber blieben natürlich strikt getrennt.
Mein Großvater gehörte zu dieser Zeit dem Quickborn an. Der war den höher gebildeten Jungs vorbehalten. Obwohl der Quickborn eine freikirchliche Gemeinschaft ist, waren christiliche Werte das Grundgerüst. Und auch der katholische Glaube. Außerdem war der Jugendbund eine Abstinenzler-Vereinigung. Das heißt: kein Nikotin, kein Alkohol. Ich schätze, mein Großvater war ein Mensch, dem Selbstdisziplin nicht besonders schwer gefallen ist. Alles was er tut klingt nach jemandem, der sich gut unter Kontrolle hat. Allerdings hat er sich lieber eigenen Regeln unterworfen als irgendwelchen gesellschaftlich auferlegten.
Großgeworden ist mein Großvater ist in einem strengen Elternhaus. Sein Vater, Franz Hespers, hat zu Hause ein hartes Regiment geführt. Mein Vater hat mir erzählt, dass er sich bei Tisch von seinen Töchtern bedienen ließ. Und wehe ihm passte etwas nicht. Suppe zu heiß oder Suppe zu kalt konnten schnell Ärger bedeuten. Franz Hespers war Patriot durch und durch und selbstverständlich kaisertreu. Als er 1914 für Deutschland in den Krieg ziehen soll, lässt er sich nicht lange bitten. Zudem war die Familie streng katholisch. Und damit meine ich so richtig streng katholisch. Gleich zwei Onkel meines Opas dienten in Rom. Pater Alvaro und Pater Bruno hießen die beiden. Seine Tante Maria war Ordensschwester im niederländischen Kloster Marienthal. Ich schätze mal, darauf konnte man sich zur damaligen Zeit ordentlich was einbilden.
Auch meinem Großvater hätte eine Karriere als Theologe offen gestanden. Er besuchte das Stiftische Humanistische Gymnasium in Mönchengladbach. Übrigens gemeinsam mit dem Philosophen Hans Jonas – das lässt mein Vater bei keiner Gelegenheit unerwähnt. Ich hab allerdings noch nicht rausgefunden, warum. Meinem Großvater stand allerdings nicht der Sinn nach einem Leben hinter Klostermauern. Deshalb machte er eine Ausbildung zum Kaufmann. Nebenher engagierte er sich in verschiedenen Jugendbünden – und ging auf Fahrt, was so viel heißt wie: Rucksack, Zelt und Klampfe packen und dann ab in die Botanik. Mal für Tage, mal für Wochen, mal für Monate. Natürlich nicht allein, sondern mit den Fahrtenbrüdern.
Die Zeiten damals waren nicht gerade rosig. Mönchengladbach war eine Textilstadt, die zur Hälfte aus einfachen Arbeitern bestand. Wer eine Anstellung hatte, konnte sich ziemlich glücklich schätzen. Trotzdem zog es mein Großvater vor auf Fahrt zu gehen. Weil er dazu aber immer längere Zeit unterwegs sein musste oder wollte, kündigte er dann immer seine jeweilige Arbeitsstelle. Auf einer seiner Touren war er sechs Monate unterwegs – und ist zu Fuß bis nach Marokko gelaufen. Dank seiner Onkel in Rom hatte er sogar bei der Durchreise durch Italien eine Audienz bei Papst Pius. Was er unterwegs gesehen hat, muss ihn sehr beschäftigt haben. Das Elend und die Armut, die ihm begegnet sind, haben ihn nachdenklich gemacht.
In den Jugendbünden, inzwischen gehörte er mehr als einem an, knüpfte er immer mehr Kontakte. Viele davon sollen ihm später einmal nützlich sein. Er lernt sich mit unterschiedlichen Weltanschauungen auseinanderzusetzen – und findet seine eigene. Er will ein sozial gerechtes Deutschland. Er will sich auf die Seite der Armen stellen. Und er will seine Freiheit behalten. Eine klitzekleine Kleinigkeit kam dann wohl dazwischen. Denn obwohl Männlein und Weiblein in den Jugendbünden streng voneinander getrennt waren – auf gemeinsamen Festen mischten sich die Gruppen natürlich.
Und wahrscheinlich hat der selbstdisziplinierte, freundliche, aber ernste und kritisch denkende Theo in die wasserblauen Augen des lebenslustigen, vorlauten, kleinen Käthchens gesehen und sich schlichtweg verliebt. Und noch wahrscheinlicher ist, dass trotz aller weitgereister Weltoffenheit ein Thema doch etwas zu kurz kam. Das mit den Bienchen und den Blümchen. Oder sie haben es einfach drauf ankommen lassen. Ich weiß nicht, wie lange sich die beiden damals gekannt haben. Aber als am 21. Februar 1931 der kleine Dietrich Franz Hespers auf die Welt kam, war er eines von vielen Frühchen in dieser Zeit. Und selbstverständlich hat mein Großvater meine Oma geheiratet. Wahrscheinlich fand er neben der Tatsache, dass er das jetzt wie ein Mann regeln muss auch, dass es eh an der Zeit war. Immerhin war er damals schon fast 30 – und meine Oma war mit 25 auch ziemlich spät dran.
Dass diese Liaison allerdings weder die glücklichste noch die vorteilhafteste war, sollte sich später auf der Flucht zeigen. Aber davon ein andermal…
Theo Hespers – mein Großvater
Käthe Hespers, geb. Kelz – meine Großmutter
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