So karg die Hütte in Melick-Gebroek bei Roermond auch war: Mein Vater erinnert sich gerne an diese Zeit. Und ich lerne die Menschen ein bisschen besser kennen, mit denen er dort war: Meinen Opa Theo Hespers, meine Oma Käthe und Max Behretz, den besten Freund der Familie.
Fast zwei Jahre lebten meine Großeltern Käthe und Theo Hespers mit meinem Vater Dietrich (genannt Dieter) in Melick. Es ist schon seltsam, dass die ersten lebhaften Erinnerungen meines Vaters aus den Niederlanden stammen. Mit jedem neuen Detail wird der Schwarzweiß-Film vor meinem inneren Auge lebendiger.
Bis jetzt war das Bauernhaus für Melick einfach nur ein halb verrotteter Schuppen irgendwo im Nirgendwo. Ich hab mir vorgestellt, dass vielleicht ein Bauernhaus in der Nähe war und sonst nichts. Aber da sollte mich mein Vater eines besseren belehren. Er erinnert sich an eine Kneipe, eine ziemlich heruntergekommene Kaschemme, genau gegenüber von diesem verrotteten Schuppen in dem er mit seiner Familie gewohnt hat. Den Holländern ging es um 1933 herum kaum besser als den Deutschen. Die Arbeitslosigkeit war groß – die Lage unsicher. Viele der arbeitslosen Männer tranken sich in Kneipen durch den Tag. Auch die Kneipe gegenüber, sie hieß „De Tonn“ – also „Die Tonne“, war jeden Tag voll.
Irgendwann kippte dann regelmäßig die Stimmung. Die Männer fingen an sich zu prügeln, zertrümmerten das Mobiliar oder warfen mit Pflastersteinen. Auf der anderen Straßenseite spielte mein Vater. Ich stelle mir vor wie er entweder fasziniert von dem Treiben mit offenem Mund auf die andere Seite starrte, oder versunken in irgendein Insekt vor der Haustür hockte. Sobald meine Oma mitbekam, was draußen los war, riss sie die Tür auf und zerrte ihren kleinen Sohn ins Haus. Wäre das ein Film, würde wahrscheinlich just in dem Moment, als sie die Tür wieder zu schmeißt, ein Pflasterstein in die Wand krachen – genau an die Stelle an der vorher noch mein Vater stand. Und so wie er das erzählt, klingt das nicht mal abwegig:
„Am Wochenende, da war der Teufel los! Die verhauten sich, blutig, die stachen sich mit Messern! Die schmissen die ganzen Pflastersteine über die Straße! Das war schlimm war das. Da musste mich meine Mutter immer rein ziehen. Das war lebensgefährlich!“
Aus dem Interview mit meinem Vater vom 25. März 2015
Er lacht laut und herzlich als er das erzählt. Für ihn als inzwischen vielleicht Dreijährigen war das natürlich auch ein riesen Ereignis. Obwohl ja auch zu Hause reichlich los war. Denn da waren immer „die Onkels aus Deutschland“ zu Besuch. Er nennt sie bis heute Onkels. So, als wäre er, wenn er das erzählt, wieder erst drei Jahre alt. Und dann leuchten seine Augen. Er fand es toll, wenn so viele Menschen da waren. Ich nehme an, als einziges Kind unter lauter Erwachsenen stand er ordentlich im Mittelpunkt. Und weil er oft davon erzählt, dass sie ihn einen Ruppsack nannten, nehme ich an, dass er ein ziemlich vorlautes, kleines Kerlchen war. Das dürfte die Jungs ordentlich amüsiert haben. Häufig blieben die Freunde meines Großvaters auch über Nacht. Dann wurde morgens zusammen gefrühstückt.
Bei einer dieser Frühstücksgelegenheiten kam dann wohl mal wieder das – sagen wir – impulsive Temperament meiner Großmutter zum Ausdruck. Mein Vater erzählt, dass sie zu mehrern an einem Tisch saßen. Mit dabei war Max Behretz. Damals war er ein junger Kerl mit großen Ohren, einer großen, krummen Nase, dunklen, schelmischen Augen, dichten Augenbrauen und üppigen dunklen Locken. Er erinnert sich, dass sein Vater mal wieder leicht genervt war:
„Meine Mutter, die konnte ja eigentlich gar nix. Die hatte ein tolles Maul und konnte manchmal dolle Sachen erzählen, auch lügen bis geht nicht mehr. Aber mein Vater ärgerte sich. Die konnte noch nicht mal richtig Kaffee kochen, die konnte keine Eier kochen, die waren meistens viel zu weich.“
Aus dem Interview mit meinem Vater vom 25. März 2015
Mein Vater weiß nicht mehr genau, warum, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es ein Witz über ihre nicht vorhandenen Kochkünste war, der sie zu dieser Aktion hingerissen hat. Und diesen Witz hatte wohl ausgerechnet Max gemacht. Und um sich für diese Unverschämtheit zu rächen, hat meine Oma sich ein Ei genommen und es Max auf seinem Kopf kaputt geschlagen. Mitten in die dichten, dunklen Locken. Am Ende mussten wahrscheinlich alle lachen. Außer meinem Vater! Der fand das überhaupt nicht lustig.
„Ich fand das gar nicht so gut. Ich mochte den Max. Ich fand das war ’ne Aggression von ihr. Meine Mutter lachte natürlich wie verrückt – der Max, der konnte nicht anders, der lachte auch.“
Aus dem Interview mit meinem Vater vom 25. März 2015
Ich hingegen mag die Geschichte sehr. Sie lässt meine Großeltern lebendig werden. Und auch ihre Freunde. Ich sehe sie alle zusammen vor mir am Frühstückstisch. Ich höre das Wasser auf dem Herd brodeln, rieche den schlechten Kaffee, fühle förmlich den alten Holztisch unter meinen Fingern, an dem sie gesessen haben und höre das fröhliche Gemurmel und Geplapper von Menschen, die sich einfach gerne mögen. Es hat etwas sehr Friedliches, Familiäres und Warmes. Und es lässt mich das Ende der Geschichte vergessen. Es zieht mich völlig hinein in eine Zeit, in der wahrscheinlich noch die Hoffnung bestand, dass man etwas ändern kann. In der die Bedrohung sich erst erahnen lässt – ein dunkler Schatten in der Zukunft.
Außerdem erzählt es auch etwas über das Verhältnis meiner Großeltern untereinander natürlich. Mein Großvater war mit einem tyrannischen Vater groß geworden. Einem Familien-Herrscher sozusagen. Ein sehr bürgerlicher Haushalt mit strengen Regeln. Ganz anders meine Großmutter, die aus einer Arbeiterfamilie stammte. Eine junge Frau mit derbem, trockenen Humor, die nicht nur impulsiv, sondern auch ziemlich ungehemmt war. Die engen Grenzen, in denen mein Großvater aufwuchs, interessierten sie nicht. Sie machte das, wonach ihr der Sinn stand. Das war manchmal lustig, manchmal aber auch ganz schön gefährlich. Dass die zwei zueinander gefunden haben, wundert mich nicht. Allerdings kann ich mir gut vorstellen, dass ihre lebhafte und fast unberechenbare Art meinem Großvater durchaus Kopfschmerzen bereitet haben. Unberechenbarkeit und Eigensinn sind nicht gerade Qualitäten, die einen ruhig schlafen lassen, wenn es darauf ankommt, vorsichtig zu sein und umsichtig zu handeln. Aber da sind wir ja noch nicht. Noch sind wir in Melick.
Und auch in Melick durften kleine Jungs wie mein Großvater nicht so lange auf bleiben, wie die Onkels unten im Wohnzimmer. Das fand mein Vater aber nicht weiter schlimm. Vor allem dann nicht, wenn Alfred Katzenstein zu Besuch war. Alfred kam ebenfalls aus Mönchengladbach und war ein jüdischer Kommunist. Der war nicht nur vernarrt in meine Großmutter, sondern auch in meinen Vater. Der wiederum fand Alfred super, weil er ihm immer tollte Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen hat. Und tatsächlich sind die beiden in Kontakt geblieben, bis Alfred Katzestein im Januar 2000 in Berlin starb.
Welche Geschichten Alfred ihm vorgelesen hat, das weiß mein Vater nicht mehr. Aber an die Gute-Nacht-Geschichten von seinem Vater Theo erinnert er sich dafür richtig gut.
„Mein Vater der war absolut SUPER im Märchen erzählen. Also diese Märchen da von Hänsel und Gretel und von Rotkäppchen, die hat er schon gar nicht mehr erzählt. Er hat mir Parabeln erzählt.“
Aus dem Interview mit meinem Vater vom 25. März 2015
Zum Beispiel die von Reineke Fuchs, in der Bearbeitung von Johann Wolfgang von Goethe. Als er mir das erzählt, merke ich richtig, wie ihm das Herz aufgeht. Und prompt komme ich selber in den Genuss einer Reineke Fuchs Geschichte. Die von Reineke Fuchs, dem Wolf und dem Hühnerstall. Kleiner Spoiler: der Wolf überlebt die Geschichte nicht…
Ich bekomme allerdings die Sparversion erzählt. Trotzdem erinnere ich mich jetzt selber wieder ganz gut daran, wie mein Vater abends auf unserer Bettkante gesessen und Geschichten erzählt hat. Er hat nie ein Buch gebraucht. Stattdessen hat er sich unsere Stofftiere geschnappt und die Geschichten nachgespielt. Das Problem war: er hat die Geschichten immer so lebendig erzählt, dass wir danach eher wach waren als müde. So ähnlich stelle ich mir das auch bei den beiden vor.
Später waren es dann Rittergeschichten. Mein Vater seufzt und flüstert fast: „Ahhhh – Rittergeschichten“, sagt er und gerät so richtig ins Schwärmen. An die Artus-Saga erinnert er sich noch besonders gut. Und an die Geschichte von den Haimonskindern, von der ich noch nie was gehört habe. Bei der Gelegenheit erzählt er, wie unglaublich belesen mein Großvater war. Und dass er all diese Geschichten einfach so vortragen konnte. Das hätte ich sehr gerne erlebt. Denn: auch wenn ich in Vielem mit meinem Vater hadere: er ist ein wirklich großartiger Geschichtenerzähler. Und wenn selbst er ins Schwärmen gerät – wie gut muss dann erst mein Großvater gewesen sein?
So sehr ich es mir wünsche, ich werde es nicht erfahren. Aber es rührt mich zu sehen, wie mein Vater es genießt, sich daran zu erinnern. Dann wird aus dem 84-Jährigen neben mir wieder ein Kind mit leuchtenden Augen. Augen, durch die ich immerhin einen klitzekleinen Blick in die Vergangenheit werfen kann. In das Leben meiner eigenen Familie…
Theo Hespers = mein Großvater
Käthe Hespers = meine Großmutter
Dietrich Hespers = mein Vater
Alfred Katzenstein = Freund meines Großvaters
Max Behretz = Freund meines Großvaters
Die Anachronistin gibt es auch als Podcast! Wer also keine Zeit zum Lesen hat, klickt sich einfach in den Podigee MP3-Feed, auch als AAC-Feed, Opus-Feed oder Vorbis-Feed zu haben. Oder ihr abonniert „Die Anachronistin“ einfach bei Apple Podcasts und natürlich im Podcatcher eures Vertrauens.
Weitere Lesungen für 2024 sind ebenfalls in Planung. Anfragen gerne über den Suhrkamp Verlag.