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Episode 46

Das Damals im Heute verstehen

In einem Text von Juli 1938, der meinem Großvater Theo Hespers zugeschrieben wird, benennt der ziemlich klar die kriegerischen Expansionspläne Hitlers. Zwei Monate vor der Zerschlagung der Tschechoslowakei – und ein Jahr, bevor die Wehrmacht Polen überfällt.

Ein Auszug aus dem Text "Die grossdeutsche Idee" von 1938, in dem erklärt werden soll, was hinter der Idee eines Großdeutschlands steckt und warum die Bestrebungen der Nationalsozialisten am Ende auf einen Krieg hinauslaufen werden.

Grau ist alle Theorie – und gerade wünschte ich, sie wäre es geblieben. Mehr als ein Jahr ist die letzte Podcast-Folge jetzt her. Ich hätte gerne früher weitergemacht. Und trotzdem fühlt es sich erst jetzt wieder richtig an. In die Zeit passend. Dazwischen liegen viele dunkle Tage.

Ich erinnere mich, wie mein Herz gebrochen ist als die Taliban die Macht in Afghanistan wieder an sich gerissen haben. An die Bilder der Verzweiflung. An die Unfähigkeit – oder den politischen Unwillen – deutsche Ortskräfte rechtzeitig zu evakuieren und in Sicherheit zu bringen. An den Kampf der Frauen. An ihre Angst. Menschen, die an Flugzeugen hingen – und starben beim Versuch zu fliehen. When will we ever learn? hab ich gedacht. When will we ever learn?

Und dann hat sich mein Herz wieder beruhigt. Ist mein Leben weitergegangen. War wieder Pandemie. Waren Podcasts über Sport und Politik. Gab es andere Brennpunkte auf dieser Welt, denen ich meine Aufmerksamkeit gewidmet habe. Bei instagram habe ich mich mit dem Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ auseinandergesetzt. In langen Artikeln versucht zu beschreiben, was an dieser Form der Erzählung zumindest schwierig ist. Wie diese „radikal subjektive Perspektive“ die Geschichte verzerrt. Wie dadurch das Opfernarrativ der armen deutschen Soldaten genährt wird. All die Großväter, die nur auf Eisbären und nie auf Menschen geschossen haben.

Und dann kommt uns diese Vergangenheit plötzlich so nah, dass es sich anfühlt als hätte sich ein Wurmloch geöffnet, dass die Vibes der Vergangenheit zurück in unsere Leben bringt. Am 24. Februar 2022 greift Russland die Ukraine an. Oder besser gesagt: Weitet Russland den Krieg, den es bereits seit 8 Jahren in der Ostukraine führt auf die ganze Ukraine aus.

Und plötzlich dringt etwas in unser Bewusstsein, das wir lange kollektiv verdrängt haben. Die Ukraine ist nicht irgendwo weit weg. Die Ukraine liegt mitten in Europa. Es passiert vor unserer Haustür. Und wir, die Deutschen, werden mit unserer Vergangenheit konfrontiert. Mit den Gräueltaten, die Nazis in der Ukraine verübt haben. Viele hören – vielleicht zum ersten Mal – von Babyn Jar, einem Tal in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Dem Tal, in dem die Nazis am 29. und 30. September 1941 in nur 48 Stunden weit über 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet haben. 81 Jahre später treffen russische Bomben die dort errichtete Gedenkstätte. Werden Shoa-Überlebende in der Ukraine von russischen Bomben getötet. Fliehen inzwischen alte und pflegebedürftige Shoa-Überlebende nach Deutschland.

Wir sind konfrontiert mit einem faschistischen Fanatiker. Und es klingt wirklich seltsam, das über einen russischen Präsidenten zu sagen. Aber Faschismus ist keine Ideologie, die die Nazis gepachtet haben. Sie haben den Faschismus nur in seiner brutalsten und bisher extremsten Form gelebt. Putin ist nicht zu Hitler auch wenn viele Karikaturen und Plakate auf Demos das nahe lagen. Aber sie haben dennoch etwas gemeinsam: Sie sind faschistische Führer, extreme Nationalisten mit Großmachtsfantasien. Während der eine das Großdeutsche Reich wollte, will der andere ein Russland in den Grenzen des damaligen Zarenreichs. Und Putin macht aus seinen Plänen ebenso wenig ein Geheimnis wie seinerzeit Hitler. Und wer sich die Videos im Netz ansieht von den Jugendorganisationen, die unter dem „Z“ geeint werden, dem kommen unweigerlich Assoziationen an die Gleichschaltung der Jugend unter Hitler. Und nein, das ist natürlich nicht zufällig. Das ist kalkuliert. Es soll Angst verbreiten davor, dass eine Zeit wieder kommt, die die allermeisten lieber nicht zurückhaben wollen.

Was ist „Großdeutschland“?

Und genau in dieser Zeit erinnere ich mich wieder an die Artikel, die mein Großvater im Juli/August 1938 veröffentlicht hat. Die Ausgabe, in der dieser Artikel steht, ist tatsächlich etwas Besonderes. Denn sie wurde im Vorfeld der Zerschlagung der Tschechoslowakei als eine Art Sonderausgabe angefertigt. Und zwar mit Geld des tschechoslowakischen Geheimdienstes. Und ja, das kann ich belegen, aber die Geschichte erzähle ich euch in einer anderen Folge. Denn jetzt gerade ist viel spannender, WAS mein Großvater da schreibt. Und das bringt mich, ehrlich gesagt, ins Schwitzen. Denn es geht um die „Großdeutsche Idee“.

„Die politischen Entwicklungen der jüngsten Zeit, der vollzogene Anschluss Oesterreichs an das Deutsche Reich und die Spannung in der Tschechoslowakei im Hinblick auf die Sudetendeutsche Frage – beweisen aller Welt, dass die grossdeutsche Idee kein romantischer Traum ist, sondern der bewusste Wille eines Volkes zur räumlichen und völkischen Einheit zu gelangen. Da die derzeitigen Machthaber in Deutschland versuchen im Namen der grossdeutschen Idee ihre Politik zu machen, ist es doppelt notwendig, den wirklichen grossdeutschen Gedanken klar herauszustellen. Denn die Verwirrung, die der Nazismus vor allem bei der deutschen Jugend innerhalb und ausserhalb des Reiches durch den Missbrauch dieser Idee schafft, kann zum Verhängnis für das deutsche Volk und gerade für die grossdeutsche Sache selber werden.

Der Nazismus weiss sehr gut, dass die Haltung der deutschen Jugend, vor allem in ihren aktivsten Teilen, grossdeutsch ist. Darum glaubt er diese grossdeutsche Haltung der Jugend für seine totalitären alldeutschen Machtpläne. benutzen zu können. Es ist darum in erster Linie zu untersuchen, was der Nazismus unter dem versteht, was er „grossdeutsch“ nennt und in wieweit die alldeutsche Zielsetzung des National-Sozialismus mit der wirklich grossdeutschen zusammenfällt.“

Quelle: Die Kameradschaft, „Zur grossdeutschen Idee“, Ausgabe Juli/August 1938 als Autor angegeben Theo Hespers

Öhhhm, ja. Also, für mich klingt das jetzt trotzdem irgendwie schräg. Allein schon, weil mir der Gedanke an ein „Großdeutschland“ komplett fremd ist. Oder die Idee, in andere Länder und Gebiete einmarschieren zu wollen. Völker zu erobern, zu unterwerfen oder was auch immer. Es kommt mir völlig absurd vor, so etwas tun zu wollen. Denn haben wir nicht alle viel mehr davon, wenn wir uns nicht gegenseitig abschlachten, sondern versuchen, zusammenzuarbeiten, um die Probleme dieser Welt zu lösen? Nur sah diese Welt halt 1938 noch ganz anders aus. Auch, weil nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen neu gezogen wurden. Stichwort Versailler Vertrag – und damit willkommen zu einem kurzen Ausflug in die Geschichte, die diesen Texten vorausgeht.

Die Entstehung der Tschechoslowakei

Die Tschechoslowakei entsteht mit der Neuordnung der Welt nach Ende des Ersten Weltkriegs. Sie ist das Ergebnis des Zerfalls Österreich-Ungarns 1918 und wird als parlamentarische Demokratie proklamiert. Sie ist ein Vielvölkerstaat. Deutsche Siedler leben allerdings bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Gebiet der neu gegründeten Tschechoslowakei. Sie kamen bereits im 12. und 13. Jahrhundert im Zuge der deutschen Ostsiedlung in die Gebiete Böhmen und Mähren – aber das führt jetzt zu weit. Wichtig ist vor allem: Große Teile der Bevölkerung Böhmens und Mährens identifizieren sich als Deutsche beziehungsweise deutschsprachige. Und das schon seit recht langer Zeit.

Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 28. Juni 1919 endet der Erste Weltkrieg auch auf völkerrechtlicher Ebene. Die Deutschen und ihre Verbündeten werden darin als alleinige Verursacher des Ersten Weltkrieges festgehalten. In der Folge muss Deutschland Milliarden an Reparationszahlungen leisten, die Reichswehr auf 100.000 Soldaten verringern, seine Kolonien abgeben und 20% des Staatsgebietes. Dazu gehört auch Hlučínsko, zu deutsch das Hultschiner Ländchen, ein Zipfel Land im Nordosten der Tschechoslowakei an der Grenze zu Polen. Die dort lebende deutschsprachige Bevölkerung hatte sich bei einer freiwilligen Volksbefragung allerdings mit 93,7% deutlich dafür ausgesprochen, weiterhin zu Deutschland gehören zu wollen. Ihr merkt schon, alles nicht so einfach da vor Ort.

Auch wenn das Hultschiner Ländchen nur ein vergleichsweise kleines Gebiet ist, zeigt sich, wie viel Konfliktpotential in den neuen Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg steckt. Viele Deutsche empfinden zudem den Versailler Vertrag als unnötig hart. Als Alleinverantwortlich für den Ersten Weltkrieg darf Deutschland nicht mitverhandeln als es um die Vertragsbedingungen geht, sondern später nur noch mit Eingaben an Kleinigkeiten drehen. Die Unterzeichnung erfolgt unter Protest. Was nicht zuletzt dazu führt, dass in der Folge die Mehrheit der Deutschen den Versailler Vertrag als illegitimes und demütigendes Diktat empfinden. Auch Deutsche in der Tschechoslowakei.

Dort leben 1938 Menschen zusammen, die sich verschiedensten Volksgruppen zugehörig fühlen. Tschechen, Slowaken und Deutsche stellen die Mehrheit. Auf dem Gebiet der heutigen Slowakei lebten zudem viele Ungarn, da das Gebiet vor 1918 zu Ungarn gehörte. Und auch Jüdinnen und Juden gehören zu den bevölkerungsstarken Gruppen. Das damalige Gebiet der Tschechoslowakei ab 1918 umfasst die heute anerkannten Staaten Tschechien, Slowakei und Teile der Ukraine. Es besteht aus den Ländern Böhmen, Mähren, Schlesien, der Slowakei und Karpatenrussland – heute Karpatenukraine – und wieder umkämpft.

Die Tschechoslowakei ist damals ein hoch entwickelter Industriestaat und seinen Nachbarstaaten weit voraus. Bei einer Volkszählung 1921 werden 3,1 Millionen Deutsche gezählt, etwa 23% der dort lebenden Gesamtbevölkerung. Wer jetzt den Begriff „Sudetenland“ vermisst oder Sudetendeutsche: Diese Bezeichnung ist eigentlich eine topographische und bezieht sich auf den Gebirgszug, die Sudeten. Die ziehen sich über die Grenzgebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens. Das heißt, Sudetendeutsche werden damals diejenigen genannt, die sich in Sprache, Kultur und Eigenidentifikation zu den Deutschen zählen, die in dieser Region leben. Viele deutsche Siedler leben allerdings auch abseits der Sudeten im Landesinneren. Deshalb wird auch von Deutschböhmern, Deutschmährern und Deutschschlesiern gesprochen. Im Grunde die präzisere Bezeichnung. Einfach, weil eben nicht alle, die sich als Deutsch identifizieren in einem zusammenhängenden Gebiet leben. „Sudetenland“ bzw. „Sudetendeutsche“ ist demnach eine Hilfskonstruktion. Und um das Ganze noch ein bisschen komplizierter zu machen: Unter der deutschsprachigen Bevölkerung sind – historisch eigentlich recht logisch – auch viele Österreicher. Die Historikerin Anna Hájková weist deshalb darauf hin, dass es dadurch von 1938 oft keine klare Identifikation für viele Menschen gab. Sie sprachen morgens Deutsch und nachmittags Tschechisch. Also je nach dem, in welchen Gesellschaftskontexten sie sich bewegten waren sie da identitätsflexibel.

Nationalsozialistische Strömungen

Genau unter dieser Bevölkerungsgruppe befinden sich aber Kräfte, die den Nationalsozialisten in Deutschland zuarbeiten. Die sogenannten Negativisten boykottieren den tschechoslowakischen Staat. Sie bilden entsprechende Parteien, wie die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP) und die Deutsche Nationalpartei. Ihr gegenüber stehen die sogenannten Aktivisten, die sich im Bund der Landwirte organisieren, in der Deutschen Christlich-Sozialen Volkspartei, der Deutschen Demokratischen Freiheitspartei und der Deutschen Sozialdemokratischen Partei. Nicht alle Sudetendeutsche sind also automatisch pro Nationalsozialismus. Aber die nationalsozialistischen Bestrebungen der Deutschmährer und Deutschböhmer, die werden eben unterschätzt.

Warum ich euch das alles erzähle? Zum einen, weil ich das natürlich selber nicht wusste und es erst mal nachlesen musste, bevor ich auch nur im Ansatz verstanden habe, worüber mein Großvater da schreibt. Zum anderen aber auch, weil es hilft, die Gemengelage zu verstehen. Und es hilft mir auch zu verstehen, warum diese Großdeutsche Idee überhaupt in einem Text meines Großvaters vorkommt. Denn, ganz ehrlich, ohne diese Hintergründe bin ich mir manchmal nicht sicher, wie ich das lesen muss, was mein Opa da schreibt. Ob er nicht doch auch völkisch-nationalistisches Denken verbreitet. Und das, obwohl er seine Vorstellung einer „Großdeutschen Idee“ klar von der Nationalsozialistischen Vorstellung abgrenzt, wie zum Beispiel hier:

„Denn die Aussenpolitik des nationalsozialistischen Parteistaates ist eine direkte Fortsetzung der alldeutschen Pläne, die uns den Weltkrieg und damit den Versaille-Frieden gebracht haben. Diese alldeutschen-nazistischen Pläne sind nicht völkisch-kultureller Art, sondern rein imperialistisch-kapitalistischer. Die alldeutsche Idee des National-Sozialismus will nicht so sehr die Einigung der deutschen Stämme, sondern vor allem die politische und wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschland über Europa.“

Quelle: Die Kameradschaft, „Zur grossdeutschen Idee“, Ausgabe Juli/August 1938 als Autor angegeben Theo Hespers

Wenn man jetzt auch noch weiß, dass es in den durch die Nationalsozialisten beanspruchten Gebiete reichlich Bodenschätze gibt in Form von Steinkohle, dann versteht man die imperialistisch-kapitalistischen Hintergründe dieser Pläne übrigens noch besser. An der Stelle sei euch herzlich das Buch „Braunes Erbe“ von David de Jong ans Herz gelegt, in dem es um die Rolle deutscher Groß-Industrieller und Bankiers beim Ausbau der wirtschaftlichen Macht der Nazis geht. Mein Großvater benennt diese Hintergründe ziemlich deutlich:

„Zu diesem Zwecke fordert sie zuerst einmal die Erfassung aller deutschen Randgebiete. Darüber hinaus aber auch aller deutschen Einflussphären in Europa. Praktisch setzt sie sich zum Ziele die Eroberung aller Randgebiete, z.B. den Westen Polens, den Süden Dänemarks, Holland, Belgien, Luxemburg, Elsass-Lotharingen, die Schweiz, Süd-Tirol, Ungarn, die Tschecho-Slowakei und die Ukraine. Für manchen Aussenstehenden mag diese Aufzählung übertrieben scheinen. Wer aber sich näher in die Gedankengänge des alldeutschen National-Sozialismus vertieft und seine Instruktionen, Informationen und seinen Schulungsdienst kennen lernt, wird bald erkennen, dass diese Zielsetzungen den Machthabern des „Dritten Reiches“ nicht romantisch, sondern real vor Augen stehen. Es ist all zu deutlich, dass diese Eroberungswünsche nichts mit der wirklichen grossdeutschen Idee zu tun haben.“

Quelle: Die Kameradschaft, „Zur grossdeutschen Idee“, Ausgabe Juli/August 1938 als Autor angegeben Theo Hespers

Und das muss man sich nochmal vor Augen führen: Mein Großvater schreibt diesen Text im Sommer 1938. Noch bevor Deutschland in Polen einfällt. Bevor am 30. September 1938 mit dem Münchner Abkommen die ersten Gebiete der Tschechoslowakei von Hitler annektiert werden – im Beisein und mit Zustimmung Englands, Frankreichs und Italiens – und ohne Anwesenheit der tschechoslowakischen Regierung. Appeasement-Politik nennt man das. Und die Länder, die er in diesem Abschnitt aufzählt, werden – bis auf die Schweiz, alle von den Nazis angegriffen. Wer das wissen wollte, konnte das also wissen. Und die wahren Gründe Hitlers waren dabei durchaus durchschaubar:

„Dennoch versucht der ‚National-Sozialismus‘ diese seine imperialistischen Bestrebungen völkisch-kulturell und sozial-wirtschaftlich zu begründen. Er behauptet, dass die Hochwertigkeit der germanischen Rasse und das kulturelle Niveau des gesamt-deutschen Volkes notwendig dazu berechtigen, die angrenzenden Völker zu germanisieren und kulturell zu durchdringen, sodass der deutsche Volksteil jeweils der herrschende sei. Sozial-wirtschaftlich behauptet der National-Sozialismus ,dass der jetzige Lebensraum des deutschen Volkes für dessen Ernährung und Entwicklung nicht ausreichend sei und dieses also allein schon aus Lebensnotwendigkeit das natürliche Recht besitze, seinen Lebensraum, d.h. also seine Gesamt-Bodenfläche so zu erweitern, dass es ohne Hilfe des Auslandes alle Bedarfsgüter erzeugen kann. Mit dieser Begründung rechtf ertigt das »Dritte Reich« heute seine ganze Politik.“

Quelle: Die Kameradschaft, „Zur grossdeutschen Idee“, Ausgabe Juli/August 1938 als Autor angegeben Theo Hespers

Die Normalität völkischer Sprache

Was mein Großvater bei seinen Erklärungen übrigens außen vor lässt ist, wie diese „Germanisierung“ stattfinden soll. Dass dazu nämlich auch die sogenannte „Arisierung“ von Unternehmen gehört. Dabei wurden deutsche Groß-Industrielle wie zum Beispiel Quandt, Dr. Oetker-Chef Richard Kaselowsky oder Bankier August von Finck mit Hilfe der Nazis dazu befähigt, feindliche Übernahmen von Firmen zu tätigen, in deren Chefetagen Juden saßen. Die Firmen wurden entweder enteignet oder weit unter Wert und unter großem politischen Druck von den Eigentümern erpresst. Die Nazis kamen so nicht nur sehr günstig an neue Industriegüter, sie kontrollierten auch ganze Produktionsprozesse von den Rohstoffen bis hin zu den Industrieanlagen und Maschinen, die benötigt wurden, um zum Beispiel, Waffen, Batterien, Kriegsfahrzeuge, aber auch Stoffe und Uniformen herzustellen. Auch das ausführlich beschrieben im Buch von David de Jong. Aber zurück zur Idee von einem „Großdeutschland“, um das es ja im Artikel meines Großvaters geht. Und dem Grund, warum mich die Lektüre zunächst ins Schwitzen gebracht hat. Es sind Sätze wie diese hier:

„Wie sehen wir nun Grossdeutschland? Hier gilt es eine klare und feste Linie aufzuzeigen. Zunächst verstehen wir unter der grossdeutschen Idee, den Willen zu einem geeinten grossdeutschen Reich, dass alle deutschen Stämme umfasst. Dabei ist vor allem entscheidend, die Gemeinsamkeit der völkischen Eigenart aller deutschen Stämme.

Die Grundlage des völkischen Seins beruht zuerst einmal auf der Eigenart des einzelnen Volksstammes, seiner körperlichen und geistigen Entwicklung, seinem Karakter, seiner Sprache, seiner Geschichte und sozialen Entwicklung, die wieder wesentlich bedingt ist von der Landschaft, in der er geboren ist und von der er ja wieder geprägt wird. Wichtig für die völkische Eigenart und das Sein einer Volksgemeinschaft ist also auch die Art des Landes, seine Bodenbeschaffenheit und sein Klima, z.B. ob auf reichem oder armen Boden aufgebaut; dabei ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend, aus welchen Gründen dieser Lebensraum genügend oder nicht genügend zur Verfügung steht, ob etwa die Bodenfläche durch Hochwertigkeit oder Ausdehnung genügend ist, oder ob die soziale Struktur des einzelnen Volkes so entwickelt ist, dass sie allen Teilen dieser Volksgemeinschaft ein gleiches Mass an Lebensexistens gewährleistet …“

Quelle: Die Kameradschaft, „Zur grossdeutschen Idee“, Ausgabe Juli/August 1938 als Autor angegeben Theo Hespers

und so weiter … und – naja – irgendwie wird mir da ein bisschen anders, wenn so sehr von Lebensraum, Völkern und Stämmen gesprochen wird. Das klingt alles so … determinierend. So unausweichlich und unabänderlich. Für mich sind das Ideen und vor allem Vokabeln, die mir tatsächlich fast ausschließlich mit NS-Ideologie begegnet sind. Dabei wollte mein Opa das doch gerade voneinander abgrenzen. Ich hab zwar eine Ahnung, dass er das auch noch tun wird. Aber ich will auch hier nicht einfach einen Text veröffentlichen, der völkische Narrative reproduziert. Und deshalb, hab ich mir eine Person gesucht, die sich viel, viel besser mit der Sprache der Zeit, aber auch mit den Umständen auskennt als ich. Die Historikerin Dr. Ulrike Jureit. Eines ihrer Spezialgebiete ist die geopolitische Geschichte, also die Geschichte des Raumes. Und das passt perfekt zu dem Artikel und den Fragen, die ich an diesen Artikel meines Großvaters habe. Aber auch zu den Fragen, die ich in Bezug auf das Hier und Jetzt habe und die Vergleichbarkeit der Ereignisse.

Weil das Gespräch mit ihr wirklich lang geworden ist, erspare ich euch hier das Transkript, das kann nämlich niemand wirklich lesen. Mein Angebot an die Gehörlosen unter meinen Leser:innen: Schreibt mir doch gerne eine Mail über das Kontaktformular oder lasst mir einen Kommentar da. Es gibt eine Abschrift, die würde ich euch dann per Mail zukommen lassen. Dasselbe gilt für den Artikel meines Großvaters. Alle anderen verweise ich auf meinen Podcast. Da könnt ihr das ganze Gespräch hören und im Anschluss daran auch den Artikel.

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Die Titelseite der ersten Ausgabe von "Kameradschaft - Schriften junger Deutscher". Die Überschrift lautet "Kameradschaft". Die ersten Zeilen lauten: "Wir stehen im Kampfe, wir jungen Deutschen. Was unsere Sehnsucht in Jahren reichen Jugendlebens war, was wir für uns und unser Volk erträumten und ersehnten, ist ferner denn je. Was wir uns schufen, ist zerstört oder tödlich bedroht. Unser Wollen ist verfehmt, unsere Gemeinschaft verboten."

Episode 33

Die Kameradschaft: Schriften junger Deutscher. Teil 1

November 1937 – der erste Versuch der Widerstandsgruppe, sich im niederländischen Exil gegen die Nazis zu verbünden ist gescheitert. Aber mein Großvater Theo und sein Freund Plato alias Dr. Hans Ebeling denken gar nicht daran aufzugeben. Im Gegenteil. Es ist ihnen gelungen, genug Geld aufzutreiben, um eine eigene Zeitschrift zu gründen: „Kameradschaft – Schriften junger Deutscher“.

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12-11-2017
Die ersten Zeilen des Artikels mit der Überschrift "Brüder in Not - Zum Rossaint-Prozess": "Es ist an der Zeit, dass die Menschen der katholischen Jugendbewegung sich Rechenschaft geben über die Art und die Bedeutung des Kampfes, den die Nazi-Regierung gegen den Fortbestand ihrer Organisationen, gegen ihre Führung, gegen sie selbst führt. Dieser Kampf ist nicht nur ein Kon-kurrenzstreit, der dem Totalitätsanspruch der Hitler-Jugend entspringt, sondern er ist ein Kampf gegen die innere ..."

Episode 34

Die Kameradschaft: Schriften junger Deutscher. Teil 2

Joseph Cornelius Rossaint, ein katholischer Kaplan, arbeitet in Oberhausen und Düsseldorf als eine Art Streetworker. Weil er Kontakte zu Kommunisten unterhält, versuchen die Nazis, ihn aus dem Weg zu schaffen. Über den Prozess gegen ihn, schreibt mein Opa Theo Hespers einen Artikel.

zur Folge

17-11-2017
Auszug aus dem Artikel "In der Reichsjugendführung - Bericht eines Engländers" (ist im Text und Podcast näher zitiert).

Episode 35

Die Kameradschaft: Schriften junger Deutscher. Teil 3

Ein junger Engländer macht eine Art Praktikum in der Reichsjugendführung in Berlin. Was er über die Nazis und die Führung der Hitlerjugend zu berichten hat, lässt tief blicken.

zur Folge

26-11-2017
Das Familienfoto zeigt meine Oma Käthe, meinen Opa Theo Hespers und meinen Baby-Vater Dietrich. Über dem Foto liegt ein Effekt, der zerbrochenes Glas simuliert.

Episode 11

Kein Weg zurück

Wenn mein Vater von der Flucht und seiner Zeit in Holland spricht, bekommt er oft leuchtende Augen. Für ihn war das alles ein riesiges Abenteuer. Das meiste davon zumindest. Und er freut sich, darüber sprechen zu können: „Ich erlebe das dann alles noch mal“, hat er bei meinem letzten Besuch Anfang Februar gesagt – und sich aufrichtig gefreut. Kein Wunder, schließlich war er damals noch ein kleiner Junge. Die Dramen der Geschichte spielen sich oft zwischen den Zeilen ab. Wie das Drama der Ehe zwischen meinem Großvater und seiner Frau Käthe – meiner Oma.

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20-02-2015
zerknülltes Papier, darunter ist ein Brief zu sehen mit einer deutlich alten Handschrift

Episode 12

Klopapier aus Goebbels Briefen

Manchmal lässt mein Vater in unseren Interviews Details fallen, die so absurd klingen, dass ich sie kaum glauben kann. Zum Beispiel die Nummer mit dem Klopapier aus Goebbels Briefen. Oder der eine Satz, in dem er erklärt, ein Weggefährte meines Opas hätte Hitler getroffen.

zur Folge

07-03-2015

Lesungen & Vorträge

Weitere Lesungen für 2024 sind ebenfalls in Planung. Anfragen gerne über den Suhrkamp Verlag.