Ein junger Engländer macht eine Art Praktikum in der Reichsjugendführung in Berlin. Was er über die Nazis und die Führung der Hitlerjugend zu berichten hat, lässt tief blicken.
Eigentlich galt mein Interesse in der ersten Ausgabe der Kameradschaft nur den beiden Artikeln von Plato und meinem Großvater. Aber weil mich in Sachen niederländisch ein bisschen der Ehrgeiz gepackt hat, hab ich mir auch noch die „Einleitenden Worte zu einer Besprechung zwischen niederländischen und deutschen Jugendleitern“ durchgelesen.
In dieser Einleitung erklärt der niederländische Jugendleiter Wim Verkade, warum die Niederländer mit den deutschen Exilanten – vertreten durch Plato und meinen Opa Theo Hespers – zusammenarbeiten müssen. Es geht darum, die niederländische Jugend vor dem Gift des Extremismus zu schützen, der über die Grenzen nach Holland schwappt. Er erklärt die Gemeinsamkeiten zwischen den Jugendbünden aus Deutschland und den Niederlanden und erinnert die Jugendleiter an ihre Verantwortung gegenüber den Jugendlichen. Und es geht auch darum zu verhindern, dass sich der Faschismus weiter in Europa ausbreitet. Dieses Schreiben hat aber nicht nur zum Ziel, das politische Feld zu bereiten. Es soll die Notwendigkeit der Zeitschrift verdeutlichen – und die Bereitschaft erhöhen, für die Publikation zu spenden. Denn für den Druck und die illegale Verbreitung der Zeitschrift nach Deutschland wird schlicht Geld benötigt. Und da Crowdfunding-Plattformen noch nicht erfunden waren, musste eben so darauf hingewiesen werden, warum man eine solche Zeitschrift auch dann finanzieren sollte, wenn man nicht direkt betroffen – sprich Deutscher war.
Wesentlich interessanter fand ich allerdings den letzten Artikel in der Ausgabe, auch wenn mich der Titel „In der Reichsjugendführung – Bericht eines Engländers“ jetzt nicht übermäßig gereizt hat. Aber der erste Satz hat es wieder rausgerissen:
„In der Zeit zwischen April und September des vorigen Jahres habe ich drei Monate in offizieller Stellung im «Auslandsamt» der «Reichsjugendführung» (RJF) in Berlin gearbeitet.“
Aus Kameradschaft, Ausgabe 1 | November 1937
Bitte was?! Ein Engländer in der Reichsjugendführung in Berlin? 1937? Sorry, aber da musste ich gleich erst mal den Namen googlen. Der Artikel ist mit D. C. Yalden-Thompson unterzeichnet. Es dürfte nicht allzu viele Menschen mit dieser Namenskombination geben. Und tatsächlich finde ich einen David Cron Yalden-Thompson, Philosophie-Professor in den USA an der University of Virginia. 1919 im britischen Dorset geboren, war Yalden-Thompson also grade mal 18 Jahre alt als er den Artikel für die Zeitschrift meines Großvaters schrieb – und als er sich in der Höhle des Löwen befand.
Was er allerdings über die Reichsjugendführung schreibt, ist unfassbar entlarvend – und deckt sich mit den Beschreibungen, die ich in der invertito gefunden habe. Dort steht ja unter anderem drin, wer meinen Großvater und Plato beim Versuch verraten hat, im Sommer 1937 die „Deutsche Jugendfront“ zu gründen.
David Yalden-Thompson schreibt, dass er mit folgender Frage in die Reichsjugendführung geht:
„Inwiefern“ ~ habe ich mich selbst gefragt ~ haben es die Nazis durch ihre Propaganda fertig gebracht, den Geist der Jugend Deutschlands zu beherrschen, einer Jugend, deren Eltern zu grossen Teilen doch vor 1933 «linker» politischer Überzeugung gewesen sind. Inweiweit sind diese Funktionäre, mit denen ich arbeiten sollte, Führer in irgend einem Sinne dieses Wortes?“
Aus Kameradschaft, Ausgabe 1 | November 1937
Seinen ersten Eindruck von der Reichsjugendführung in Berlin beschreibt er so:
„Während der ersten 2 Wochen bekam ich den Eindruck eines lebhaften Betriebes und grosser Geschäftigkeit: eine ganze Reihe von uniformierten Funktionäre, die einander mit familiären «Du» anredeten, und von «Hitler-Jugend»-Abteilungen von sehr gesund aussehenden Schulknaben, die mit grossem Schneid militärische Lieder sangen. Dieses ist in der Tat der Eindruck eines gewöhnlichen Besuchers, der ungefähr einen Monat in Hitler-Deutschland weilt, und mit einigen Leuten ungefähr 10 Minuten spricht.“
Aus Kameradschaft, Ausgabe 1 | November 1937
David Yalden-Thompson war vor allem im Auslandsamt. Er wollte dort herausfinden, wie das Auswärtige Amt, Chef-Naziideologe Alfred Rosenberg und Außenminister Joachim von Ribbentrop versuchten, auch die deutsche Jugend in England zu erreichen und auf Linie zu bringen. Trotz seiner erst 18 Jahre geht Yalden-Thompson ziemlich hart ins Gericht mit den nationalsozialistischen „Führern“.
„Drei Wochen lang war ich bei den Führern dieser «Organisation von 6 Millionen», in der alle deutschen Jungen mit Ausnahme der Juden gezwungen Mitglied sind. Ich kam zu der Folgerund, dass diese «Führer» nicht viele von den Qualitäten besitzen, die wir für die Führerschaft notwendig erachten. Im «Auslandsamt» war es unmöglich, einen Mann zu finden, von dem man aufrichtig sagen konnte, dass seinem Handeln etwas anderes zu Grund lag als Ehrgeiz. Soweit man aus ihren Handlungen folgern konnte, hatten sie kein Gefühl von Korpsgeist und Loyalität weder für ihr «Amt» noch untereinander. Jeder war gerne bereit, den anderen zu opfern, um selbst daraus Vorteil zu ziehen. Und das geschah öfters. Funktionäre entliessen untergeordnete Kameraden ohne Grund und schickten auf Vermutungen hin Berichte über das Betragen ihrer Vorgesetzten an die Gestapo. Einige dieser sogenannten «vertrauenswürdigen Jugendführer» arbeiteten ~ wie sie mir in Privatgesprächen mitteilten ~ gegen Hitler und wünschten die alte Jugendbewegung zurück.“
Aus Kameradschaft, Ausgabe 1 | November 1937
Im Übrigen wurde auch hier allzugerne auf den § 175 zurückgegriffen. Wurde man in der Reichsjugendführung der sittlichen Unzucht mit Jungen für schuldig befunden, war man seinen Posten los und verbrachte seine Zeit im Zuchthaus oder KZ.
Yalden-Thompson berichtet von zwei großen Entlassungswellen auch hochrangiger Vertreter in der Reichsjugendführung. Eine im Oktober 1936 – und eine im Mai 1937. Von den Nachgerückten erzählt Yalden-Thompson:
„Die Funktionäre, die wirklich Nazis waren, waren viel «objektiver». Abgesehen von ihrem Egoismus waren sie, wie ich später entdeckte, völlig ohne Verbindung mit ihren Untergebenen und mit der «Mannschaft». Sie sahen sehr schön aus, wenn sie überall in Berlin herumliefen mit ihren schneidigen Uniformen und Paraden abnahmen, stehend auf den Sitzen ihrer Mercedes-Benz-Wagen.“
Aus Kameradschaft, Ausgabe 1 | November 1937
Wenn das mal nicht Führungsqualitäten sind: In Uniform schön aussehen und sich im Benz an Paraden vorbeifahren lassen. Wenn es nur nicht so unfassbar traurig wäre …
Aber Yalden-Thompson befasst sich nicht nur mit der HJ. Er hält auch Kontakt zu oppositionellen Jugendverbänden.
„Die Nazis wissen, dass sie die ältere Generation, die jetzt 18 bis 25 Jahre alt ist, nicht für sich gewinnen können. Diese Jugend wird niemals die Ideale, die sie vor 1933 gehabt hat, vergessen oder aufhören, diese wieder anzustreben. Seiner Zeit lösten die Nazis die katholischen Jugendorganisationen auf und überführten 2 Millionen von ihnen in die national-sozialistische Organisation. Auf diese Weise versuchten die Nazis, sie vom Einfluss der Kirche zu trennen. Dieser Versuch scheiterte aber und die Nazis wissen das.“
Aus Kameradschaft, Ausgabe 1 | November 1937
An der Stelle bin ich mir allerdings nicht ganz sicher, ob Yalden-Thompson das richtig einschätzt. Also, dass die 18-25jährigen sich nicht doch von den Nazis vereinnahmen lassen. Wie mein Großvater in seinem Artikel schreibt, sind die Zwänge doch recht enorm. Und wenn man dann einmal drin ist, in der Organisation, dann ist es auch gar nicht mehr so leicht, da raus zu kommen. Es sind ja nicht reihenweise Menschen in dem Alter desertiert.
Auch wenn die Überzeugungen nicht geteilt werden, es gibt einfach kaum eine Chance aus dieser Umklammerung des Naziregimes rauszukommen. Es sei denn natürlich man flieht oder geht in den Widerstand. Aber fliehen war auch nicht so einfach, wie es klingt. Man hat nicht einfach seinen Pass genommen und ist in eines der Nachbarländer spaziert. 1937 nicht – und erst recht nicht nach 1937, wie der weitere Verlauf der Geschichte zeigen wird. Und wie prägend die vier Jahre Naziherrschaft waren, zeigt diese Stelle im Bericht:
„Wenn man zu einem HJ-Jungen geht und ihn fragt, wieviele von der Jugend ausser den Katholiken noch offen passive Resistenz gegen die Orders der Nazis wagen, dann wird man finden, dass vier Jahre Verfolgung durch die Gestapo ihn gelehrt haben zu schweigen.“
Aus Kameradschaft, Ausgabe 1 | November 1937
Im letzten Abschnitt des Berichts beschäftigt sich Yalden-Thompson dann mit der neuen Strategie der Nazis, der Jugend ihre Ideologie einzuimpfen. Sie konzentrieren sich auf die 8-14jährigen:
„Die letzten Massnahmen zur Unterdrückung des selbständigen Denkens in der jungen Generation sind interessant. Baldur von Schirach scheint sich nach seinen letzten Anordnungen klar darüber zu sein, dass seine alleinige Hoffnung die Kontrolle über die Jugend in Deutschland zu besitzen, ist, das «Jungvolk» (8 bis 14 Jahre) möglichst weit von der «Hitler-Jugend» (14-18 Jahre) entfernt zu halten, um zu verhindern, dass die «ältere» Generation das Denken der kleineren Kinder beeinflusst.“
Aus Kameradschaft, Ausgabe 1 | November 1937
Es ist so, so, so – uäh – wie mit Menschen in diesem Regime Schach gespielt wird. Wie kleine Funktionsmaschinen herangezüchtet werden sollen. Nirgendwo geht es auch nur im Ansatz um menschliche Bedürfnisse. Um die Bedürfnisse von Kindern. Es geht einzig und allein darum, mit Kindern die Kriegs- und Allmachtsfantasien erwachsener Männer zu verwirklichen. Nichts ist menschlich an dieser Schachspielerei. Und ja, ich wusste das natürlich auch schon vorher. Allein die Organisation des Holocaust ist der beste Beweis dafür. Aber es zieht sich halt durch alles. Und zu diesen Kindern gehören Eltern, die das für richtig halten. Die bereitwillig ihre Kinder für ein höheres Ziel opfern. Und geopfert wurden sie tatsächlich, denn nicht wenige davon werden ein paar Jahre später im Krieg fallen. Missbraucht als Kanonenfutter. Entschuldigung, aber ich kann da einfach nicht nüchtern drauf gucken. Das ist schlicht ein groß angelegtes Menschenexperiment und Missbrauch obendrein. Ein Missbrauch, der sich auch noch Jahrzehnte später äußern wird. Denn diese Doktrin, die in den Jahren 37-45 in die Köpfe dieser Kinder eingepflanzt wurde, die ließ sich nicht einfach wieder so ausradieren. Aber im Herbst 1937 ist für Yalden-Thompson noch nicht alles verloren:
„Es ist schwer zu prophezeien, wie der Kampf um die Jugend ausgehen wird. Er sieht bis jetzt nicht danach aus, dass Schirach die bewussten Teile der Jugend gewinnt. Die oppositionellen Jugendgruppen sind durch seine Massnahmen zu einer Einheit getrieben worden, die sie früher nie gekannt haben.“
Aus Kameradschaft Ausgabe 1 | November 1937
Heute wissen wir, wie der Kampf um die Jugend ausgegangen ist. Die meisten sind mitmarschiert. Wer fliehen konnte, ist geflohen. Wer Widerstand geleistet hat, wurde inhaftiert. Einige haben sich „freiwillig“ an die Front schicken lassen, um einer Haftstrafe zu entgehen. Die, die versucht haben von innen gegen das System zu arbeiten und überlebt haben, haben nach dem Krieg jahrelang um Entschädigung gestritten. Und wer versucht hat, sich irgendwie im System durchzuwurschteln, hatte nachher schlechte Chancen zu beweisen, dass er heimlich kein überzeugter Nazi war. Gerade unter den Jugendlichen gab es eigentlich fast nur Verlierer.
Und so endet die erste Ausgabe der Kameradschaft mit einem Gedicht. Ein Kampflied – ausgerechnet:
Wir tragen unsere Fackeln in die Nacht,
Auf unseren Lippen Trotz,
In unseren Augen Glut,
In unseren Adern glüht ein neuer Mut,
Der einem neuen Kampf entgegenlacht,
Das Spiel der Leiber, unbeschwert und frei,
Sing uns ein Ruhmes-Lied
Von Wagnis, Kampf und Tod,
Von Sichverschwenden in ein Morgenrot,
Hört Ihr den Ruf – Heiho, wir sind dabei!
Ein Schuft, der weniger als Alles wagt,
Ein stolzes Leuchten soll
In unseren Augen stehn,
Wir wollen lachend untergehn,
Wenn nur aus unserem Blut
Ein neuer Morgen tagt.
(Verfasser unbekannt.)
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