1937 nimmt die Geschichte meines Großvaters so langsam wieder Fahrt auf. Er verliert seine deutsche Staatsbürgerschaft, muss seinen Weggefährten Hans Ebeling vor der Gestapo retten und lernt die jüdische Unternehmerin Selma Meyer kennen.
1937 nimmt die Geschichte meines Großvaters Theo Hespers so langsam wieder Fahrt auf. Und endlich finden die Protagonisten zusammen, die im Juli 1937 entscheiden werden: Es ist Zeit für eine weitere Widerstandszeitschrift. Für einige von ihnen das Todesurteil.
Es ist immer wieder einigermaßen verrückt, eine Geschichte rückwärts zu lesen, deren Ende man schon kennt. Vielleicht ist das der Grund, warum wir manchmal nicht sicher sind, ob es nicht doch so etwas wie Schicksal gibt. 1937 jedenfalls gibt schon mal einen kleinen Vorgeschmack auf das, was da noch so kommen soll.
Dr. Hans Ebeling – genannt Plato – und mein Großvater könnten kaum unterschiedlicher sein. Plato, ein Leutnant aus dem 1. Weltkrieg, ein brillanter Stratege, Großbürger (also vor allem reich) und Lebemann (also vor allem besoffen) trifft auf meinen Großvater, einen armen Schlucker, der im niederländischen Exil mit Ach und Krach seine Familie durchbringt. Überzeugter Christ, wenn auch eigentlich eher freikirchlich orientiert, Humanist, Abstinenzler und Pazifist. Nicht nur einmal muss mein Opa seinem Freund Plato aus der Patsche helfen. Die beiden treffen sich – noch unregelmäßig – immer mal wieder in Brüssel. Dorthin hat sich Plato abgesetzt, weil ihm die Gestapo auf den Fersen ist. Wie dicht, erzählt mir mein Vater, als ich im März 2015 mal wieder mit meinem Mikrofon an seinem Tisch sitze:
„Aber einmal ist mir überliefert worden, hat der Theo den Plato vor der Entführung bewahrt. Der Plato, der saß wieder stockbesoffen in Brüssel in der Kneipe, und da waren zwei Gestapo-Leute waren grad dabei, ihn besoffen in ein Taxi zu schmeißen, da kam Theo dazwischen. Der war stocknüchtern, der hat das verhindert.“
Interview mit Vater am 25. März 2015
Erstaunlicherweise finde ich zu dieser kleinen Geschichte von meinem Vater auch ein Datum in meinen Unterlagen: Das Ganze hat sich am 6. Januar 1937 abgespielt. Ein Umstand, der mich immer wieder verblüfft, und der meinen Vater zu der Aussage verleitet: Ich hab ein Elefantengedächtnis! Nicht wie die anderen, die immer alles vergessen. Hat er mir erst vor ein paar Tagen wieder am Telefon erzählt. Nur die Jahreszahlen hat er halt nie im Kopf. In diesem Fall standen sie in den Unterlagen.
Nur einen knappen Monat später verliert mein Großvater offiziell die deutsche Staatsbürgerschaft und wird damit staatenlos. In der Urteilsbegründung seines Todesurteils heißt es dazu:
„Wegen seiner staatsfeindlichen Handlungen im Auslande ist dem Angeklagten am 1. Februar 1937 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Während seines Aufenthaltes in den Niederlanden hat er sich mehrfach um die Zuerkennung der dortigen Staatsangehörigkeit bemüht.“
Aus Todesurteil und Urteilsbegründung vom 04.08.1943
Legt man die Nazijustiz zu Grunde, war mein Großvater damit bereits so gut wie tot. Auch wenn das hart klingt. Aber im Prinzip ist damit klar: Bekommen die Nazis ihn in die Finger, werden sie ihn zum Tode verurteilen. Ganz egal, was er ab diesem Zeitpunkt noch macht oder eben nicht macht. Ich habe keine Ahnung, ob meinem Großvater das bewusst war. Und ich kann mir kaum vorstellen, was in jemandem vorgeht, der weiß: Schnappen sie dich, dann war’s das. Wird man dann mutiger, weil der Hals eh schon in der Schlinge steckt? Weil einem bewusst ist, dass es ein „Richtig“ im Sinne der herrschenden Gesetze nicht mehr gibt? Dass sich „richtig“ und „falsch“, „wahr“ und „unwahr“ nur noch an moralischen Maßstäben messen lassen, aber eben nicht mehr an juristischen?
Nur einen Atemzug später tragen mich meine Gedanken ins Hier und Jetzt. Zu jemandem, wie dem Journalisten Deniz Yücel. Mein Großvater hat als Journalist in den Niederlanden gearbeitet – auch wenn er das rein rechtlich gesehen gar nicht durfte, denn Emigranten oder Flüchtlinge aus Deutschland durften sich nicht politisch engagieren, geschweige denn arbeiten. Trotzdem hat da in den Niederlanden kein Hahn nach gekräht. Nur ein paar Kilometer weiter hinter der Grenze – in Deutschland – hätte er dafür im Knast gesessen. Und nicht nur das, sie hätten ihn zum Tode verurteilt, weil er aus den Niederlanden heraus die deutsche Regierung kritisiert hat. Und Deniz Yücel? Sitzt in der Türkei im Gefängnis, weil er in seiner Funktion als Journalist die türkische Regierung kritisiert hat. Aus Deutschland heraus, aber auch in der Türkei. Wäre er hier in Deutschland geblieben, hätte er sich mit Hass-Kommentaren und Morddrohungen auseinandersetzen müssen. Aber er wäre ein freier Mann. Die deutsche Regierung hätte ihn dafür nicht bestraft.
Und was die Vorwürfe angeht, Terroristen zu unterstützen: Aus Sicht der Nazis hat mein Großvater daran mitgewirkt, die nationalsozialistische Regierung zu stürzen und den Volkswillen zu zersetzen. In ihren Augen war auch er damals ein Terrorist und hat terroristische Bestrebungen unterstützt. Mit Worten wohlgemerkt. Heute darf ich ihn Widerstandskämpfer nennen. Aber vor 80 Jahren gehörte auch mein Großvater zu denen, die „Terroristen“ unterstützen. Parallelen wie diese erschrecken mich jedesmal. Aber sie machen mir auch bewusst, dass wir aufhören müssen, unsere Geschichte als etwas zu begreifen, das so nur im Deutschland der 30er Jahre passiert ist und passieren konnte. Denn Teile dieser Geschichten wiederholen sich weltweit immer und immer wieder. Und zwar überall dort, wo Regierungen den Weg der Demokratie verlassen und die Meinungsfreiheit beschnitten wird. Und mit Meinungsfreiheit meine ich nicht das Recht, andere auf Teufel komm raus im Netz zu bepöbeln. Mit Meinungsfreiheit meine ich das Recht, frei von Bestrafung seine Haltung kundzutun und zu diskutieren. Die muss nicht jedem gefallen. Aber so lange ich damit die Rechte und Freiheiten anderer nicht verletze, muss ich damit auch die Staatsorgane straffrei öffentlich kritisieren dürfen.
Aber zurück zu 1937, denn noch haben sich nicht alle Beteiligten des künftigen Widerstandskreises kennengelernt. Um den Faden noch mal kurz aufzunehmen: Mein Großvater lebt inzwischen mit seiner Frau und meinem Vater in Eindhoven. Er hat Antonia Verhagen – genannt Toos – kennen- und vielleicht auch schon lieben gelernt. Und die beiden unternehmen regelmäßig Ausflüge miteinander:
„Am 20.2.1937 wurde ich von Hespers eingeladen, mit nach Amsterdam zu kommen, wo wir ein Varieté besuchen wollten. Vom Bahnhof aus gingen wir zuerst in das Büro (HTO), das der Selma M e y e r gehört.“
Verhör mit Antonia Verhagen vom 29. Oktober 1940
Der 20. Februar 1937 – das ist ein Tag vor dem 6. Geburtstag meines Vaters. Ich weiß noch, dass ich das tatsächlich ein bisschen doof fand, als ich das gelesen habe. Ja ich weiß – das ist ein etwas albern. Aber irgendwie ging mir das durch den Kopf.
Viel wichtiger für die Geschichte ist aber, dass Selma Meyer auf den Plan tritt. Ich habe inzwischen einiges über Selma – richtig heißt sie Sara Cato – Meyer gelesen. Eine wirklich beeindruckende Frau! In den Briefen, die sie aus der Haft an ihre Mutter schreibt, wirkt sie sanft und feinsinnig. Fast zerbrechlich, sehr bescheiden, aber dabei unglaublich tapfer. Selma ist Jüdin, praktiziert ihren Glauben aber nicht. Sie engagiert sich sehr in der Friedensbewegung, ist Vorsitzende verschiedener wohltätiger Organisationen und Unternehmerin. In ihrem Holland Typing Office in der Damrak 44 in Amsterdam arbeiten bis zu 40 Personen.
Auf einem Bild sieht man eine Art Industrieloft, darin in mehreren Reihen hintereinander Arbeitsplätze, bestehend aus einem kleinen Holztisch mit Schreibmaschine drauf und einem Stuhl. Nach heutigen Maßstäben ein Großraumbüro. Im HTO werden Schreibarbeiten aller Art erledigt. Bisweilen leiht sie ihre Schreibkräfte an Unternehmen aus, zum Beispiel, wenn eine Sekretärin erkrankt ist. Zu den Aufgaben des HTO gehört auch das Konfektionieren der Schreibarbeiten, das heißt hier wird nicht nur getippt, sondern hier werden die Schriftstücke auch in Briefumschläge gepackt und verschickt. Müssen Schreiben vervielfältigt werden, arbeitet das HTO mit verschiedenen Druckereien zusammen.
Der Kontakt zwischen Selma Meyer und meinem Opa kommt über Toos zustande. Sie kennt Selma aus der holländischen Friedensbewegung. Warum genau der Kontakt an diesem Tag zustande kommt? Keine Ahnung. Den wahren Grund dürfte Toos in den Verhören kaum verraten haben, wenn sie sich nicht selbst belasten will. Und den Nazis ist das im Prinzip egal. Ihnen genügt zu wissen, dass Selma Meyer die Widerstandsgruppe unterstützt hat. Wer wird da schon so genau nachfragen wollen? Aber eins ist an dieser Stelle sicher: Diese Begegnung hat entscheidenden Einfluss auf den Fortgang der Geschichte. Denn ohne die Unterstützung von Selma Meyer hätte es vielleicht nie eine Widerstandszeitschrift namens „Die Kameradschaft“ gegeben. Aber von diesem Tag im Februar 1937 aus gesehen, ist das noch Zukunftsmusik …
Theo Hespers – Widerstandskämpfer und mein Großvater
Hans Ebeling, genannt Plato – Widerstandskämpfer, Freund von Theo, Mitherausgeber von „Die Kameradschaft“
Antonia „Toos“ Verhagen – Friedensaktivistin, Geliebte von Theo
Selma Meyer, eigentl. Sara Cato – Friedensaktivistin, Unternehmerin, unterstützt „Die Kameradschaft“
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