Historische Orte sind immer ein bisschen seltsam. Und Berlin hat ganz schön viele davon. Vor allem da, wo die ganzen Regierungsgebäude sind, schreien einen die Epochen regelrecht an. Ich bin in der Niederkirchner-Straße 8 verabredet in der Topografie des Terrors. Direkt gegenüber dem Abgeordnetenhaus und dem Martin-Gropius-Bau. Vor mir fahren doppelstöckige Touribusse vorbei. Und ich versuche mir vorzustellen, wie es hier 1942 ausgesehen haben könnte. Ich betrete das Gelände mit gemischten Gefühlen, weil ich nicht so recht weiß, was mich erwartet.
Historische Orte sind immer ein bisschen seltsam. Und Berlin hat ganz schön viele davon. Vor allem da, wo die ganzen Regierungsgebäude sind, schreien einen die Epochen regelrecht an. Ich bin in der Niederkirchner-Straße 8 verabredet in der Topografie des Terrors. Direkt gegenüber dem Abgeordnetenhaus und dem Martin-Gropius-Bau. Vor mir fahren doppelstöckige Touribusse vorbei. Und ich versuche mir vorzustellen, wie es hier 1942 ausgesehen haben könnte. Ich betrete das Gelände mit gemischten Gefühlen, weil ich nicht so recht weiß, was mich erwartet.
Das letzte Mal habe ich so einen Ort vergangenen Sommer besucht. Ich bin im Urlaub ein bisschen durch die Gegend gereist – hauptsächlich mit dem Zug. Da hat man viel Zeit zum Denken. Ich weiß nicht mehr so richtig warum, aber irgendwann habe ich beschlossen: ich möchte die Geschichte meines Großvaters aufschreiben. Blog oder Buch, das wusste ich noch nicht so richtig. Aber dass ich das Projekt angehen werde, war beschlossene Sache. Viel recherchiert hatte ich da noch nicht. Aber Berlin lag auf meiner Reiseroute und eins wusste ich definitiv: nämlich wo die Nazis meinen Großvater ermordet hatten. Also bin ich nach Plötzensee gefahren, um mir die Gedenkstätte anzusehen. Und das war so naiv, wie es hier klingt.
Es ist eine ganz schöne Strecke da raus. Und von der Bahn aus geht man ein ordentliches Stück zu Fuß. Es war ziemlich schwül und der Himmel war bewölkt. Ich gehe die breite Straße entlang und starre auf das Navi in meinem Handy. Ständig brausen Autos an mir vorbei. Rechts und links überall Industriebauten. Sieht alles nicht danach aus, als wäre hier irgendwo eine Gedenkstätte ehrlich gesagt. Und dann geht es doch irgendwo links rein. Zwischen den Pflastersteinen wächst Gras, das Gebäude zu meiner Rechten sieht ziemlich mitgenommen aus. Links von mir ist eine hohe Backsteinmauer. Bis heute ist hinter dieser Mauer ein Gefängnis. Allein das finde ich schräg.
Irgendwann finde ich den Eingang zur Gedenkstätte. Ein großer Innenhof von dem aus man die Türme der Justizvollzugsanstalt sehen kann. Denke ich zumindest. Auf der Mauer Stacheldraht. Und genau vor mir ein kleines Gebäude – etwas größer als zwei Garagen. Mehr ist nicht übrig. Aber das, was übrig ist, reicht völlig, um mich noch mal einen Tag aus dem Tritt zu bringen. Außer mir ist niemand da. Ich gehe direkt in das zweite Gebäude, weil hier exemplarisch ein paar Geschichten zu Gefangenen ausgestellt sind.
Jedes einzelne Schicksal macht mich wahnsinnig. Wahnsinnig traurig und wahnsinnig wütend. Ich begreife nicht, warum so etwas passiert ist. Und auch heute noch passiert. Dass Menschen für eine abweichende Meinung, Geisteshaltung, Religion, sexuelle Orientierung oder was auch immer eingesperrt, gefoltert und umgebracht werden. Und dass das auch noch rechtmäßig ist. Gesetzlich völlig abgesichert. Früher waren es Kommunisten und Juden, Homosexuelle und Widerstandskämpfer. Später irgendwann auch einfach nur Leute, die jemandem lästig geworden sind oder die in der Not das Pech hatten dabei erwischt zu werden, Kartoffeln vom Feld zu klauben. Die Geschichte von Theo Hespers, meinem Opa, steht hier nicht. Was hatte ich auch erwartet. Hier sind während des NS-Regimes fast 3.000 Menschen hingerichtet worden. Das Schicksal meines Opas ist eines von vielen.
Aber sein Name ist im Computer verzeichnet, dazu ein kurzer Abriss seiner Geschichte und ein Foto. Das Fahndungsfoto, das mir immer wieder begegnet und das ich sofort erkenne, wo immer es auch auftaucht. Auf den Tafeln lese ich das erste Mal, dass es in Plötzensee eine Guillotine gab. Was mich wundert, denn mein Vater hat immer erzählt, dass mein Großvater an einem Fleischerhaken erhängt wurde. Dann stoße ich auf die Geschichte der Blutnächte von Plötzensee. Am 06. September 1943 haben die Alliierten Bomben auf Plötzensee geworfen. Dabei wurden nicht nur Teile des Gefängnisses, sondern auch die Guillotine zerstört. Das war drei Tage bevor mein Großvater hingerichtet wurde. Die Angriffe hatten zur Folge, dass die Nazis ziemlich viele – teils noch ausstehende – Todesurteile möglichst schnell vollstrecken wollten. Allein in der Nacht vom 07. auf den 08. September werden 186 Menschen erhängt. Im zweiten Raum ist immer noch der Balken zu sehen mit den Haken. Fünf nebeneinander. An einem davon ist mein Großvater gestorben.
Im Sommer dort herumzulaufen, wo die Gänseblümchen und der Löwenzahn auf den Wiesen leuchten und die Vögel zwitschern ist unfassbar skurril. Das alles passt nicht zusammen. Und als ich da stehe und auf den Balken mit den fünf Haken starre, klart es auf und die Sonne scheint durch die Fenster. Dabei hatte ich nur eine halbe Stunde vorher ein Foto gemacht, dass weitaus besser zu dem passt, was ich dort fühle. Ein düsteres Foto, dramatisch mit dunklen Wolken hinter den großen roten Backsteintürmen. Aber so war es natürlich nicht. Man glaubt das immer, weil die meisten Filme aus dieser Zeit schwarzweiß sind. In so düsteren Zeiten, wie kann da die Sonne geschienen haben? Wie kann überhaupt jemand fröhlich gewesen sein. Aber das verkennt wahrscheinlich das Leben wie es wirklich ist.
Mit genau diesen Gedanken beschäftige ich mich auch wieder, als ich am Eingang der Topographie des Terrors stehe. Schüler rennen schnatternd durch die Drehtür. Ich höre englisch, französisch, niederländisch und osteuropäische Sprachen. Hier, in der Niederkirchner Straße 8 war das Hausgefängnis der Gestapo. Im Gegensatz zu Plötzensee erinnert hier gar nichts an die Vergangenheit dieses Ortes. Im Gegenteil. Das hier ist ein komplett modernern Bau. Viel Glas auf grauer Fläche. Und ich empfinde überhaupt nichts. Weil ich keinen Bezug zur Geschichte bekomme. Im Gegensatz zu Plötzensee ist hier nichts, was an die Vergangenheit des Ortes erinnert. Außer den Schildern, die überall angebracht sind auf denen erklärt wird, was hier mal war.
Pünktlich um zwei trifft Dirk ein. Dirk Kuring ist ein Bekannter von mir, den ich irgendwann mal in Köln über ein Internetforum kennengelernt habe. Das muss locker zehn Jahre her sein. Wir kennen uns tatsächlich nur flüchtig. Dirk ist Berliner, hat Geschichte studiert und kennt sich bestens aus. Er ist oft einer der ersten, die unter den Blogeinträgen auf Facebook ein Like dalassen. Irgendwann hab ich ihn gefragt, warum er das tut (natürlich find ich das großartig, aber gewundert hat es mich schon…). Und dann hat er erzählt, dass er jahrelang „Antifa Stadtführungen“ für Jugendliche konzipiert und geleitet hat. Da war ziemlich schnell klar: die nächste Station muss ich nicht alleine erkunden.
Dirk erzählt mir, dass man ziemlich lange nicht wusste, was auf dem Gelände mal war, auf dem heute die Topographie des Terrors ist. Zu Zeiten der DDR, das Gelände liegt auf der Westseite direkt an der Mauer, hat sich niemand darum gekümmert. Zuletzt konnte man dort ohne Führerschein Auto fahren, ein Verkehrsübungsplatz also. Erst Ende der 70er Jahre erwacht so langsam ein Bewusstsein dafür, dass dieser Ort eine Geschichte hat – und dass diese Geschichte nicht ganz unbedeutend ist. 1987 dann, zur 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin, wird das Gelände wieder öffentlich zugänglich. Aber genau so fühlt sich dieser Ort auch an. Wie einer, der vergessen wurde und dem jetzt künstlich Geschichte eingehaucht wird.
Wir gehen durch die Ausstellungsräume und unterhalten uns einfach. Und so sehr ich die Arbeit schätze, die dort gemacht wird. Zwischen all den Menschen und Schulklassen gelingt es mir nicht, mich wirklich darauf einzulassen. Überall hängen großflächige Schwarzweißbilder, viele zeigen die Menschenmassen, die mit erhobenem rechten Arm dem Führer zujubeln. Eine Reihe weiter sind Bilder von Soldaten, dahinter Bilder von Häftlingen, Menschen die gedemütigt werden, bis auf das Skelett abgemagerte KZ-Häftlinge kurz nach ihrer Befreiung – die Symbolbilder dieser Zeit eben. Bilder, die jedem von uns vorgehalten werden, spätestens, ab dem Zeitpunkt an dem man eine weiterführende Schule besucht. Mir zeigt das einfach wieder, wie wichtig persönliche Geschichten sind. Die Masse an Bildern kann niemand wirklich aufnehmen. Die Menschen auf den Bildern kennen wir nicht und die schwarzweißen Darstellungen tun ihr übriges, der Geschichte die Persönlichkeit zu nehmen. Das sieht alles aus wie aus einer Zeit mit der wir nichts mehr zu tun haben. Das ist so falsch – und trotzdem so verständlich.
In einer Reihe sind Verhaftungsfotos von berühmten Insassen des Gestapo-Hausgefängnisses zu sehen. Erich Honecker ist einer von ihnen. Die vielen anderen habe ich nicht behalten. Aber viele davon waren, so sie nicht mit dem Tod bestraft worden sind, auch nach dem Krieg politisch aktiv. Mein Großvater ist auch hier nicht mit dabei. Aber auch in der Topographie des Terrors kann man nach Menschen suchen, die hier inhaftiert waren. Und da finde ich auch den Namen meines Großvaters und sein Foto.
Eine Stunde verbringen Dirk und ich in der Ausstellung. Danach bekomme ich eine kleine Privatführung durch die umliegenden Straßen inklusive Geschichtsstunde. Ich wünschte mir, meine Geschichtslehrer damals wären so gewesen. Einfach raus gehen. Und vor Ort erzählen, was passiert ist. Damit die Geschichte ein bisschen realer wird. Denn das ist tatsächlich das, was mich in letzter Zeit wirklich umtreibt. Geschichte ist nicht einfach vorbei. Da gibt es kein Anfang und kein Ende, nur weil es ein historisches Datum gibt wie das Kriegsende. In den Menschen leben die Geschichten weiter. Die Geschichte meines Großvaters hat nicht mit seinem Tod geendet. Sie atmet sich durch die Zeit. Ich hab sie nur geerbt. Aber sie beschäftigt mich. Weil sie mich beeinflusst – mein ganzes Leben schon. Was wir heute tun, kann Generationen nach uns noch beeinflussen. Wir sollten uns gut überlegen, welchen Einfluss wir da nehmen wollen…
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