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Episode 5

Viel Stoff, wenig Schlaf

Immer wieder lässt mein Vater in seinen Erzählungen Namen fallen, die mir neu sind – oder an die ich mich nicht mehr erinnere. Dabei hat mich vor allem die Lebensgeschichte der niederländischen Unternehmerin Sara Cato Meyer, genannt Selma, nachhaltig beeindruckt. Als mein Vater von ihr erzählt, fühlt es sich an, wie ein Familienmitglied zu treffen, das lange als verschollen galt. Und das man gleich darauf auf schmerzhafte Weise wieder verlieren wird.

Ein Portrait von Selma Meyer, daneben ein Auszug aus einem Bericht über das Büro von Selma Meyer und ihrer Mitwirkung am Widerstand

Mein Aufnahmegerät läuft schon seit über einer Stunde. Und mein Vater redet und redet. Er hat diese Geschichten schon hunderte Male erzählt. Manche davon kenne ich schon. Trotzdem sitze ich einfach nur da und höre zu. Wer mich kennt, weiß, dass das selten ist. Als er eine kurze Pause macht, sieht er mich aus seinen alten, wässrigen Augen erwartungsvoll an: „Frag mich! Frag mich!“, fordert er mich ungeduldig auf …

26.12.2014 – Ich sitze im Wohnzimmer meines Vaters in Brüggen-Bracht, nahe der holländischen Grenze. Es ist erst der dritte Besuch bei meinem Vater, seit wir wieder miteinander sprechen. Weit über zehn Jahre war der Kontakt zwischen uns abgebrochen. Es sind einfach zu viele Dinge passiert, die ich ihm nicht verzeihen konnte. Aber dazu später mal mehr. Jetzt gerade ist das nicht wichtig. Jetzt ist nur eins wichtig: die Zeit, die uns bleibt, zum Reden zu nutzen – und zum Fragen.

Eine Stunde erzählt er schon, während ich neben ihm auf dem Sofa hocke. Er zeigt mir alte Familienfotos – als kleines Warm-up sozusagen. Dann legt er mir ein Buch nach dem anderen auf den Schoß. Er hat ganz schön viel niedergeschrieben – über seinen Vater, den Widerstand, den Krieg und die Zeit danach. Vor uns auf dem Couchtisch liegt ein dicker Aktenordner. Er nimmt ihn und klappt den Deckel auf. Die Seiten sind fein säuberlich in Klarsichthüllen gepackt. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise schmeißt er seine Dokumente in zerfledderte Mappen, aus denen dann zerfranste und vergilbte Seiten herauslugen. Die oberste Hülle ist leer. „Das ist die Gestapo-Akte von Theo Hespers“, sagt er. „Da oben war das Urteil drin – ich weiß nicht, wo das wieder ist.“ – wobei „das Urteil“ das Todesurteil für meinen Großvater meint.

Ich starre den Ordner an, dann legt er ihn wieder auf den kleinen Tisch. Ich werde diesen Ordner mitnehmen. Aber mir graut davor. Mein Vater lächelt mich an: „Das ist sehr spannend, was da drin steht.“, sagt er. Ich überlege, ob spannend wirklich das richtige Wort dafür ist. Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Als mein Vater gerade dabei ist mir den Fluchtweg zu erklären, den er und meine Großeltern zusammen mit zwei Wegbegleitern 1940 antreten, um den Nazis bei ihrem Einmarsch in Holland zu entfliehen, kommt seine dritte Frau ins Zimmer. Sie hat Kuchen gebacken und bittet uns an den Esstisch. Klar. Es ist schließlich Weihnachten. Da ist Kuchen essen obligatorisch.

Mein Vater ist noch nicht ganz mit seinem Stück Torte fertig, da holt er ein Buch hervor. Es ist auf niederländisch verfasst. Ein Artikel in diesem Buch handelt von Max Behretz, einem Mitstreiter meines Großvaters. Der Name sagt mir was, aber wer genau das ist, weiß ich nicht. Nur, dass er auf der Flucht nach Belgien dabei war. Soviel hat mein Vater mir in der Stunde davor erzählt. Mein Vater tippt auf verschiedene Bilder in dem Artikel: „Da, das ist das Haus in dem wir zuallererst gewohnt haben.“ Er zeigt auf ein altes Bauernhaus, ziemlich windschiefe Bruchbude ehrlich gesagt. Eine Art einstöckiges Doppelhaus. Eine Tür, ein Fenster und ein Spitzdach. In der linken Seite, da haben mein Vater und meine Großeltern Unterschlupf gefunden, rechts wohnte ebenfalls ein Deutscher. Der hat meinen Großvater immer nach seinen Widerstandsschriften gefragt. Ein Spion der Nazis, wie sich später rausstellen sollte.

Selma Meyer, eine niederländische Widerstandskämpferin

Dann zeigt mein Vater auf die Bilder von zwei Frauen. Die eine ist Antonia Verhagen, genannt Toos. Ihren Namen kenne ich ganz gut. Mein Vater hat sie oft erwähnt. Die andere Frau kenne ich nicht. Ihr Name ist Sara-Cato Meyer, genannt Selma. In ihrem Schreibbüro in Amsterdam saß ab Mitte 1938 die Redaktion der Kameradschaft, so hieß die Widerstandszeitschrift meines Großvaters. Mein Vater zeigt auf ihr Bild und sagt: „Die hat es auch ganz schlimm erwischt.“

Und dann erzählt er, wie sie gestorben ist. In der offiziellen Version der Gestapo wurde sie wegen einer Bauchfellentzündung vorzeitig aus der Haft in Berlin entlassen. Die Wahrheit aber ist, sagt mein Vater, dass die Gestapo-Offiziere nachts in die Baracke* des Frauengefängnisses eingedrungen sind. In den Feldbetten haben die meisten Frauen auf dem Rücken geschlafen. Die Männer – vielleicht waren auch Frauen dabei – haben ihr und anderen Mitgefangenen nachts im Schlaf den Unterleib buchstäblich zu Brei geschlagen. Die Frauen sind qualvoll an ihren inneren Verletzungen gestorben. Erzählt hat das eine Mitgefangene von Selma Meyer, die den Überfall gelähmt überlebt hat – weil sie lieber auf dem Bauch schlief.

Es sind Geschichten wie diese, die mich grade nachts nicht schlafen lassen. Mir ist es unbegreiflich, dass Menschen einander so etwas antun. Es ist feige und krank. Aber es sind auch Geschichten wie diese, die erzählt werden müssen. Nicht als irgendwelche historischen Ereignisse in Referaten und Geschichtsbüchern. Sondern als persönliche Geschichten. Vielleicht geht mir das deshalb so nahe. Weil diese Menschen auf eine seltsame Art und Weise Familie sind. Weil sie meinem Großvater geholfen haben. Weil sie angepackt haben um etwas zu ändern und dafür so grausam bezahlen mussten.

Beim nächsten Mal gibt es wieder eine Geschichte von meinem Großvater. Versprochen. Ich werde versuchen die zwei Stunden Tonmaterial so schnell es geht zu bearbeiten. Aber die Geschichte von Selma Meier ist mir so nah gegangen, dass ich sie einfach jetzt schon teilen musste.

P.S. Am Samstag hab ich mit Daniel Fiene und Herrn Pähler bei DRadio Wissen kurz über dieses Blog hier gesprochen. Sie haben es auf ihrer persönlichen #Leseliste2015 unter die Top 10 gelost. Dafür vielen Dank. Damit hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet.

Personen:

Dietrich Franz Hespers – mein Vater

Theo Hespers – mein Großvater

Selma Meier – Mitstreiterin meines Großvaters

Post vom Vater:

Nachdem ich meinem Vater Mitte Februar „das Internet ausgedruckt habe“, gab es natürlich prompt Korrekturen. So ist das als Lehrerkind. Aber ich bin froh, dass er das noch korrigieren kann. Selma Meijer (oder Meyer) ist nicht in einer Baracke mit anderen Gefangenen, sondern in ihrer Gefängniszelle überfallen worden. Am Ende bleibt es eine grauenhafte, zutiefst unmenschliche und feige Tat. Und trotzdem schafft es mein Vater, mal wieder einen dieser Momente zu fabrizieren, in denen ich glaube im falschen Film zu sein. Briefgeheimnis hin oder her. Aber was bitte muss der arme Postmensch gedacht haben, der diese Zeilen auf dem Briefumschlag per Zufall oder aus Neugier gelesen hat? Ich meine, ich weiß ja nicht was sonst so außen auf Briefumschlägen so drauf steht. Aber irgendwie schon kurios – bei aller Dramatik.

Auf dem Briefumschlag korrigiert Dietrich Hespers einen Eintrag
Mein Vater schickt mir zwischendurch Korrekturen zum Blog – auch mal auf dem Briefumschlag. Dass er Selmas Nachnamen mit zwei Punkten über dem Y schreibt, hat einen Grund. Denn im niederländischen wurde der Name wahrscheinlich Meijer geschrieben. Im Deutschen wurde er dann entweder zu Meier oder Meyer. Das ist auch der Grund, warum die Recherche zu solchen Namen oft gar nicht so leicht ist.

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