Mir ist von Anfang an klar, dass ich die Stellen finden werde von denen Matthias gesprochen hat. Die Stellen, die darauf hinweisen, dass während des Verhörs irgendetwas passiert ist. Besonders lange muss ich dazu nicht lesen. Es ist ein spezieller Moment. Einer, der sich nicht so leicht in Worte fassen lässt.
Berlin. Dorthin haben sie meinen Großvater gebracht, nachdem sie ihn in Antwerpen mit gefälschten Lebensmittelmarken erwischt und festgenommen haben. Zuerst ins Marinegefängnis nach Wilhelmshaven – und dann nach Berlin. Ins „Hausgefängnis“ der Geheimen Staatspolizei im Reichssicherheitshaupt. Prinz-Albrecht-Straße 8. Da will ich hin.
Wir halten das oft für selbstverständlich. Ein Leben in Freiheit. Ein Leben mit allen Freiheiten. Ein Leben, für das die Jugend zur Zeit meines Großvaters noch ziemlich kämpfen musste. Das waren ganz seltsame Anwandlungen, die die jungen Leute da damals hatten. Ich will euch nicht unnötig auf die Folter spannen, aber für mich war es wichtig einordnen zu können, wie mein Großvater tickte – und woher er seine Ideen hatte. Deshalb will ich euch kurz entführen in die 1920-30er Jahre – die große Zeit der Bündischen Jugend.
Immer wieder lässt mein Vater in seinen Erzählungen Namen fallen, die mir neu sind – oder an die ich mich nicht mehr erinnere. Dabei hat mich vor allem die Lebensgeschichte der niederländischen Unternehmerin Sara Cato Meyer, genannt Selma, nachhaltig beeindruckt. Als mein Vater von ihr erzählt, fühlt es sich an, wie ein Familienmitglied zu treffen, das lange als verschollen galt. Und das man gleich darauf auf schmerzhafte Weise wieder verlieren wird.
Bereits vor 1933 engagiert sich Theo Hespers gegen die NSDAP. Es ist augerechnet seine katholische Erziehung, die ihn zum Gegner der Nazis macht. Denn er erkennt früh, dass die Ziele der Nationalsozialisten mit seinen christlichen Werten nicht übereinstimmen. Weil mein Großvater versucht, sich vor allem mit politischem Engagement gegen den Einfluss der Nazis zu stellen, gerät er bereits zu Beginn der NS-Diktatur ins Visier der Gestapo.
In einem Referat, das ich irgendwo im Netz aufstöbere, entdecke ich Zitate aus Briefen, die mein Opa aus der Haft an seine Familie schreibt. Es ist das erste Mal, dass ich seine Worte lesen kann. Der Inhalt dieser Briefe berührt mich zutiefst.
Stell dir vor, du kommst ins Büro. Vor dir steht ein Kollege, mit dem du schon ewig zusammenarbeitest. Und dann sagt er einen einzigen Satz, der dich so aus dem Konzept bringt, dass er deinen ganzen Tag auf den Kopf stellt. Und nicht nur das. Er hat Informationen über deinen Großvater, von denen du nichtmal wusstest, dass ausgerechnet er sie hat.
Am 12.12.1903 – vor genau 111 Jahren – wurde mein Großvater geboren: Theodor Franz Maria Hespers. Für mich ist mein Großvater ein Mythos. Eine Heldenfigur. Und jemand, der mein Leben bis heute beeinflusst. Er starb am 09.09.1943 in Berlin Plötzensee – ermordet von den Nazis.