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Episode 12

Klopapier aus Goebbels Briefen

Manchmal lässt mein Vater in unseren Interviews Details fallen, die so absurd klingen, dass ich sie kaum glauben kann. Zum Beispiel die Nummer mit dem Klopapier aus Goebbels Briefen. Oder der eine Satz, in dem er erklärt, ein Weggefährte meines Opas hätte Hitler getroffen.

zerknülltes Papier, darunter ist ein Brief zu sehen mit einer deutlich alten Handschrift

Jedes Mal, wenn ich zu meinem Vater fahre, um mit ihm zu sprechen, habe ich eine ganze Liste Fragen im Gepäck. Trotzdem gibt es immer diese Momente, in denen ich ihn mit großen Augen ansehe und denke: bitte, was?! Bei meinem letzten Besuch Mitte Februar hatte ich gleich zwei mal das Vergnügen. Und immer sind es so kleine Nebensätze, die er wie selbstverständlich einschiebt, die ich aber für echte Sensationen halte.

Eigentlich hab ich mir vorgenommen, brav meine Fragenliste mit meinem Vater abzuarbeiten. Schön eine nach der anderen. Schließlich muss ich jede Menge Wissenslücken füllen. Was mich vor allem interessiert: wie sind die Eltern meines Großvaters damit umgegangen, dass ihr Sohn Widerstandskämpfer ist und im Exil lebt? Wie viel Kontakt hatten sie? Und wie haben die Geschwister meines Großvaters die Zeit überstanden? Haben sie nach Ende des Krieges über ihren Sohn beziehungsweise Bruder gesprochen? Was haben sie erzählt?

Viele dieser Fragen hat mein Vater beantwortet. Aber spätestens nach einer halben Stunde kommt er mit einer Geschichte um die Ecke, die schon wieder so kurios ist, dass ich nicht weiß ob er sie erfunden hat. Oder ob sie aus Erzählungen meiner Oma stammt, die ja durchaus für ihre Lügenmärchen berühmt war. Auf der anderen Seite: so schrecklich weit hergeholt scheinen sie mir dann auch wieder nicht. Und in jeder Geschichte steckt ja auch ein Körnchen Wahrheit. Überprüfen kann ich im Zweifel nur die Eckdaten der Geschichte, nicht aber den Inhalt.

Goebbels Tante als Nachbarin

Bevor meine Großeltern, also Theo und Käthchen, zu ihren Schwiegereltern ins Dahl zogen – das ist ein Stadtteil von Mönchengladbach, südlich vom Stadtzentrum – haben sie in Hardt gewohnt, ein Vorort, der ziemlich exakt westlich vom Stadtzentrum liegt. In diesem Haus in Möchengladbach-Hardt war im Erdgeschoss eine Polizeistation. In der zweiten Etage haben meine Großeltern mit meinem Vater gewohnt, der noch so klein war, dass er im Kinderwagen durch die Gegend geschoben wurde. Richtig interessant ist allerdings die Bewohnerin der ersten Etage: eine Tante von Joseph Goebbels. Ja genau, dem Joseph Goebbels.

Die Maschinerie der NSDAP war damals bereits in vollem Gange und Goebbels war auch schon vor der Machtübernahme der Nazis ein enger Vertrauter Adolf Hitlers. Aus den Verhörakten meines Großvaters geht außerdem hervor, dass Theo Hespers den Parteimitgliedern der NSDAP bestens bekannt war. Bereits 1930 ist er auf einer Parteiveranstaltung der NSDAP als Gegenredner aufgetreten – so zumindest behauptet die Gestapo das in den Akten. Mein Großvater allerdings sagt, dass er lediglich mit den Menschen dort, von denen er viele persönlich kannte, sprechen wollte und dies freundschaftlich geschehen ist.

Jedenfalls kann man sich vorstellen, dass mein Großvater doch recht interessiert war an dem, was in der NSDAP passierte. Und die besten Informationen gab es ausgerechnet aus der ersten Etage von Tante Goebbels. Denn – und hiermit möchte ich mich gleich für die derbe Ausdrucksweise meines Vaters entschuldigen – Papier war ein ziemlich wertvolles Gut und rar obendrein, deshalb wurde es selbstverständlich bestmöglich wiederverwendet. Und damit mir das nun folgende überhaupt irgendwer glaubt, lasse ich meinen Vater den wichtigen Teil der Geschichte am besten selbst erzählen:

„Die (Tante von Joseph Goebbels, Anm. d. Autorin) brachte immer die neuesten Nachrichten und Briefe von ihrem Neffen und dann wurden die Briefe und die Zeitungen, die wurden zu Klopapier geschnitten. Damals gab es ja kein Klopapier, das waren ja Plunschklos waren das und da wurde Zeitung kaputt geschnitten, und die knautsche man sich ein bisschen und putzte sich den Arsch damit ab. Und da hatte mein Vater erste Informationen über Joseph Goebbels – via Klopapier.“

Aus einem Gespräch mit meinem Vater vom 15.02.2015

Das war allerdings nur der erste „What-the-fuck“-Moment. Allzu tief hab ich da nicht nachgebohrt. Denn schließlich kennt mein Vater diese Geschichte auch nur aus Erzählungen. Außerdem bleibt natürlich zweifelhaft, wie hochwertig die Informationen waren, die man aus diesen Briefen von Jospeh Goebbels entnehmen konnte. Allzu geheime Interna werden da nicht drin gestanden haben. Aber vielleicht hat er von Fortschritten und Erfolgen seiner Partei oder seiner Bestrebungen berichtet. Schließlich war der zukünftige Reichspropagandaminister für seinen Ehrgeiz bekannt. Am Ende bleibt es einfach eine kuriose Anekdote – und mein Vater hat es sichtlich genossen sie zu erzählen.

Besoffener Adolf

Der zweite „What-the-fuck“-Moment kam ungefähr eine Stunde später. Ich hatte gerade mein Aufnahmegerät ausgeschaltet und wollte mich wieder auf den Weg zurück nach Köln machen, da sagt mein Vater – wieder in so einem Nebensatz: „Weißt du eigentlich, dass der Hans Ebeling den Hitler gekannt hat?“ Ich brauche ein paar Sekunden, um zu reagieren, krame dann hektisch mein Aufnahmegerät aus der Tasche und schalte es wieder ein. Die Aufnahme startet mittendrin mit den Worten: „…den Adolf besoffen gesehen habe… Wer weiß das schon, dass Adolf gesoffen hat!“

Hans Ebeling, das war der Mann, mit dem mein Großvater zusammen ab 1937 die Widerstandszeitschrift „Die Kameradschaft“ herausgegeben hat. Die beiden kannten sich bereits vor dem Krieg, haben sich im Exil dann aber wieder getroffen und sich zusammengetan, um Schriften gegen Hitler und das Naziregime zu verfassen und zu verbreiten. Hans Ebeling muss Adolf Hitler mitte der 20er Jahre getroffen haben, als er noch hauptsächlich in Bayern politisch aktiv war. Damals sondierte Hitler, mit welchen Kräften man gemeinsame Sachen machen könnte. Und auch Hans Ebeling war auf der Suche nach politisch Gleichgesinnten. Die beiden müssen sich in München begegnet sein.

Ich jedenfalls bin sprachlos, dafür rattert es in meinem Gehirn ganz ordentlich. Ich erinnere mich an Teile der Gespräche, die ich mit Matthias von Hellfeld hatte. Matthias hatte mir erzählt, dass die Bediensteten des Naziapparats – vor allem die aus den unteren Reihen – gerne Geschichten zu einer Größe aufgebläht haben, die sie am Ende gar nicht hatten. Wenn ihnen zum Beispiel drei Mitglieder einer kommunistischen Partei in die Finger gekommen sind, dann konnte das im Bericht schon mal so rüberkommen, als hätten sie gerade eine hochaktive und gefährliche Terrorzelle auffliegen lassen. Mit solchen Geschichten konnte man sich gut hochdienen. Für die Betroffenen hatte das übermäßig harte Strafen zur Folge.

Abstinenz und Vegetarismus in den 20er und 30er Jahren

Wenn allerdings Hans Ebeling bereits mit Adolf Hitler Mitte der 20er Jahre in München informelle Sondierungsgespräche hatte, dann wirft das natürlich ein etwas anderes Licht auf die Geschichte. Zumindest ab dem Zeitpunkt, an dem Theo Hespers und Hans Ebeling gemeinsame Sache gemacht haben. Ich frage mich gerade, ob das rauszubekommen ist – und wenn ja, wie. Auf jeden Fall finde ich den Fakt an sich hoch spannend. Leider hat mein Vater das anscheinend nicht ganz so spannend gefunden. Denn so richtig viele Details sind aus ihm nicht rauszubekommen, was diese Verbindung angeht.

Dafür echauffiert er sich um so mehr über die Darstellung Hitlers in der Allgemeinheit als Abstinenzler und Vegetarier. Zumindest Mitte der 20er Jahre war Hitler, nach Aussage von Hans Ebeling, wohl kein Abstinenzler. Genau weiß ich das allerdings nicht, dazu habe ich mich nicht intensiv genug mit Hitlers Biografie beschäftigt. Genau genommen hab ich das bisher noch gar nicht gemacht. Und ich weiß auch nicht, ob ich das wirklich will. Mir ist etwas anderes viel wichtiger: Nämlich wie geschickt die Propagandastrategen des Naziregimes die junge Bevölkerung unterwandert haben. Sie haben die Strömungen und Trends der damaligen Zeit nicht nur erkannt, sie haben sie zu eigenen Idealen umfunktioniert.

Dinge wie das Abstinenzlertum und der Vegetarismus kamen aus der Jugendbewegung. Mein Großvater war beides: überzeugter Abstinenzler und überzeugter Vegetarier. Wenn man so will, waren das die Trends der Hipster der 20er und 30er Jahre. Auch körperliche Ertüchtigung, das Bewegen in der Natur – alles Ideale, die mein Großvater vertreten hat. Die Nazis haben diese Strömungen einfach aufgenommen und ihr antisemitisches Gedankengut dazugemischt. Am Ende erinnert mich das schwer an die heutige Nipster-Bewegung. Neonazis die sich mit hippen Mützen, Skinny-Jeans, Sneakern und Jutebeuteln tarnen, und in eine „Zurück zur Natur“-Attitüde nonchalent noch eine Prise Fremdenfeindlichkeit mixen. Das alles gibt mir schwer zu denken.

Und so werden aus diesen „What-the-fuck“-Momenten am Ende des Tages für mich Momente, in denen ich Parallelen zu erkennen glaube zwischen der Zeit damals und der Zeit heute. Und ich kann nur ganz inständig eins hoffen: dass wir heute schlauer sind und rechtzeitig erkennen, wenn uns jemand unsere Ideale klaut und sie für seine rechtsgerichteten Zwecke instrumentalisiert.

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