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Episode 42

Kein Wort über die Lage der Juden

In der Widerstandszeitschrift meines Opas Theo Hespers geht es 1939 um viele wichtige Themen. Aber Artikel über die Verfolgung und Entrechtung von Jüdinnen und Juden finde ich nicht. Warum eigentlich?

Ein Ausschnitt aus dem Artikel "Hitler, Goering und die anderen", in dem davon berichtet wird, dass es keine sogenannten gemäßigten Nationalsozialisten gibt.

Wo fängst du an ein Feuer zu löschen, wenn es eigentlich schon überall brennt? Welche Themen setzt du in einer Widerstandszeitschrift, wenn du informieren und aufklären, aber eben auch möchtest, dass deine Leser wütend genug werden, um endlich aufzubegehren? Und was, wenn sich die Gewalt eines Regimes im Prinzip gegen jedes Menschliche, alles Humane richtet?

Seit Stunden blättere ich durch die Artikel, die mein Großvater Theo Hespers und seine Mitstreiter Anfang 1939 in der Widerstandszeitschrift „Die Kameradschaft“ veröffentlich haben.

Der erste Artikel befasst sich mit der – ja fast – Beschwörung dessen, was als „Bündisch“ angesehen wird. Im Gegensatz zur Zwangsgemeinschaft der Hitlerjugend (HJ), das wird hier betont, ist das Bündische als der freiwillige Zusammenschluss von jungen Menschen zu einer Gruppe definiert. Und zwar, weil sie der eigenen Haltung entspricht. Das steht natürlich im krassen Gegensatz zu den Zielen der HJ, die keine eigene Meinung zugesteht, Haltung schon gar nicht – es sei denn, es ist die militärische Haltung. Das Strammstehen auf Befehl. Denn die HJ sollte junge Männer auf den Krieg vorbereiten – und junge Frauen auf ein Dasein als Soldatenmutter. Ich bekomm da sofort einen Würgreflex, wenn ich nur daran denke, weil es einfach so abscheulich ist, Kinder nur auf ihre Funktion in einem Staat hin zu erziehen, der sich auf Unterdrückung und Gewalt ausrichtet. Nach außen, aber eben auch nach innen.

Wer sich das nochmal näher vor Augen führen möchte, kann sich den Zeit-Artikel durchlesen zur Kindererziehung im „Dritten Reich“. Damals wurden Glaubenssätze propagiert, die Kinder schon im Säuglingsalter abhärten sollten. Das berühmte Schreien lassen und nicht zu sehr verwöhnen, sollte angeblich die Lungen kräftigen und dafür Sorgen, dass die Kinder nicht zu sehr verweichlichten, weil sie ständig getröstet wurden. Schließlich sollten die Jungs mal tapfere Soldaten werden und die Mädchen Mütter, die ihre Söhne stolz und bereitwillig in den Krieg ziehen ließen. Da war eine zu enge, emotionale Bindung natürlich hinderlich. In mir regt sich schon beim Gedanken an solchen Unsinn ein Emotionscocktail aus Wut, Ekel und absolutem Widerspruch.

Politische Verfolgung im NS-Regime

Im zweiten Artikel geht es um einen Prozess gegen Ernst Niekisch im Januar 1939. Wer sich mit dieser Personalie eingehender beschäftigen möchte, findet auf Wikipedia auch einen Artikel zu Ernst Niekisch. Interessante Biografie eines Linken, der irgendwie auch bei den Rechten mitmischt, um dann wieder zum Linken zu werden – also extreme Kurzfassung. 1939 jedenfalls gehörte Ernst Niekisch zu den Vertretern des nationalistischen Lagers. Und das ist ja einigermaßen interessant. Aber zugegebenermaßen verstehe ich nur am Rande, worum es da im Detail geht. An der Stelle für die Geschichte aber auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass diese Auseinandersetzung mit dem Prozess in der Form in der Widerstandszeitschrift stattfindet. Ich persönlich verstehe den Artikel als eine Art Signal: „Ihr glaubt, ihr seid auf der sicheren Seite, wenn ihr Nationalisten seid? Tja, dann schaut euch mal an, was da gerade mit Ernst Niekisch passiert. Vor diesem Regime ist keiner sicher!“

Das zeigt auch der letzte Abschnitt des Artikels:

„Was sich aber herausgestellt hat, was dem Eingeweihten bekannt war, was aber in der Weltöffentlichkeit erst langsam sichtbar wird, das ist die Tatsache des Gegensatzes des deutschen Nationalismus’ zum hitlerischen Nationalsozialismus. Kritik von „Links“ kann „man“ leichter abtun als „jüdisch“, „marxistisch“, als „Freimaurerei“ oder als „Rom“.

Hier aber waren Menschen, die den Nationalsozialismus kritisch beleuchteten, die ihn ablehnten als nichtnational, als faschistisch und als undeutsch. Hier war eine der Gruppen, an deren nationaler Zuverlässigkeit nicht zu zweifeln war und deren Recht auf Nationalismus nicht bestritten werden konnte. Hier standen Männer, die über eine eigene Tradition in den nationalen Verbänden und Bünden verfügten. Hier war eine Opposition, die sich auf der Ebene des Nationalismus vollzog, und die dem „Glauben“ an einen Hitler und an einen „Nationalsozialismus“ gegenüberzusetzen hatte: Charakter und den Glauben an Deutschland!“

Aus: Die Kameradschaft, Heft 1, 2 Jahrgang, Januar 1939, S. 9, Artikel: „Der Prozess gegen den „Widerstandskreis“ und die Oberlandkameradschaft

Zugegeben, diese Pathetik hat für mich heute einen faden Beigeschmack. Nationalstolz ist einfach nicht mein Ding. Ich persönlich brauche das nicht. Nicht so, wie es hierzulande häufig verstanden oder gerne zur Schau gestellt wird. Als Abgrenzungsmerkmal. Aber ich kann schon nachvollziehen, dass das damals wichtig war. Denn es war ein Kampf um ein Deutschland, in dem kaum noch jemand gefahrlos leben konnte, wenn man nicht auf Linie war. Und diese Linie war so schmal, dass es nur ein leichtes Stolpern brauchte, um tief in einen dunklen Abgrund zu stürzen. Ein Abgrund aus staatlicher Willkür und Gewalt.

„Hitler, Göring und die anderen“

Der nächste Artikel beschäftigt sich mit einem vermeintlichen Machtkampf zwischen Hitler und Goering. Und, das ist aus heutiger Sicht geradezu lächerlich, der im Ausland diskutierten Frage, ob Goering vielleicht der gemäßigtere Nationalsozialist sei. Der Artikel beginnt wie folgt:

„Es ist in der letzten Zeit modern geworden, sowohl im Reiche selbst, wie auch in Kreisen des Auslandes, von einer Diktatur Goerings zu reden. Dabei bleibt die Frage offen, was mit Hitler geschieht. Aber es wird ein gewisser Gegensatz konstruiert zwischen dem von sogenannten radikalen Kräften beeinflussten „Führer“ und dem „gemässigten Generalfeldmarschall“ (Anführungsstriche mitsprechen bitte).

Das Herausstellen eines „radikalen“ und eines „gemässigten“ Flügels“ innerhalb des Nationalsozialismus’ ist vollendeter Unsinn. Es gibt keine „radikalen“ und „gemässigten“ Nationalsozialisten, sondern es gibt einfach nur Nationalsozialisten.“

Aus: Die Kameradschaft, Heft 1, 2 Jahrgang, Januar 1939, S. 14, Artikel: „Hitler, Göring und die anderen“

Und auch die nächsten Sätze dieses Artikels sind hoch interessant. Die Fragen darin müssen wir uns heute genauso stellen, wenn wir über vermeintliche machtpolitische Konflikte bei Regimen im Ausland berichten:

„Wer aber ist an der Herausstellung eines derartigen Gegensatzes interessiert? Und das ist die Frage, die bei allen Gerüchten und Nachrichten immer wieder gestellt werden muss. Wer verbreitet derartige, ihm anscheinend sehr sympathische Meldungen? es sind dies eben neben den Kreisen im Inlande, die in der Hoffnungslosigkeit der Situation sich gerne Illusionen machen, diejenigen Kreise des Auslandes, die ihrem Nachgeben dem Nationalsozialismus gegenüber und ihrer falschen Konzeption in der Weltpolitik überhaupt irgendwie ein Phantom brauchen, irgendwie einen „Silberstreifen“, auf den sie ablenken und hinweisen können.“

Aus: Die Kameradschaft, Heft 1, 2 Jahrgang, Januar 1939, S. 14, Artikel: „Hitler, Göring und die anderen“

Natürlich würde da heute nicht Nationalsozialismus stehen. Das wäre ein zu krasser Vergleich. Aber interessant finde ich an der Stelle trotzdem, wie häufig diese „Silberstreifen“ auch heute noch in Nachrichten und Berichten vorkommen, wenn wir von außen auf die Situation in einem anderen Land schauen. Wie oft wurde jetzt in den vergangenen Jahren schon über einen möglichen Machtverlust von zum Beispiel Donald Trump („Jetzt wird es eng für Trump“) oder Recep Tayip Erdogan spekuliert? So wirklich passiert ist im Prinzip bisher nichts. Und es bleibt die Frage danach, wie sinnvoll solche Headlines sind. Ober ob sie nicht auch das sind, was da oben beschrieben steht: Eine Illusion, ein Silberstreifen, der fortwährend suggeriert: „Das wird nicht ewig so bleiben“.

Kein Mensch regiert ewig

Im Prinzip stimmt das auch. Kein Mensch lebt ewig. Aber für die Menschen, die unter diesen Umständen leben müssen, kann es sich wie eine Ewigkeit anfühlen. Es beeinflusst ihr ganzes Leben. Zum Beispiel das der Kinder, die an der Grenze zwischen Mexiko und den USA tage- und wochenlang von ihren Eltern getrennt in irgendwelche Lager gesperrt wurden. Das Leben der politischen Aktivist:innen und Journalist:innen, die in der Türkei im Gefängnis sitzen, weil sie nicht die Meinung der Regierung vertreten. Das Leben der Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Gewaltherrschaft geflohen sind und gerne in ihr Land zurück möchten, um dort zu leben, aber nicht können. So wie mein Großvater Theo Hespers und seine Freunde, die in den Niederlanden festsaßen – und keine Chance hatten, zu ihren Familien ein paar Kilometer hinter der Grenze zurückzukehren, weil das ihr Todesurteil gewesen wäre. Weil ich an dem Artikel viele Aussagen über – strategisch durchaus erwünschte – Machtkämpfe und deren Außenwirkung spannend finde, bekommt ihr ihn am Ende dieser Podcast-Episode in voller Länge.

Kein Wort zu den Gesetzen gegen Juden Anfang 1939

Aber eigentlich will ich in dieser Episode auf einen anderen Punkt hinaus. Denn eines macht mich an den Ausgaben zwischen Januar und März 1939 ziemlich stutzig. Die Artikel darin beschäftigen sich viel mit Innenpolitik, was sicher wichtig ist.

Es geht in der Februarausgabe zum Beispiel sehr ausführlich und zahlenlastig um die Agrarpolitik im Dritten Reich. Auch der „Brief eines Bauern aus dem Dritten Reich“ ist abgedruckt. Die Märzausgabe beschäftigt sich mit der Jugend im Dritten Reich. Mit nationalsozialistischer Jugenderziehung und Berufsausbildung. Alles spannende und damals wichtige Themen. Aber zu einem Thema finde ich genau nichts. Zur Lage der Juden in Deutschland. Und das, obwohl sich Anfang 1939 die Lage nochmal erheblich zuspitzt. Und ich gebe zu: Ich bin enttäuscht. Denn nicht ein einziger Artikel beschäftigt sich mit dem, was da passiert. Warum?

Ich versuche mich an Erklärungen, aber ich muss auch einsehen – ich hab einfach nicht genug Ahnung von dem Thema. Und deswegen darf mir an der Stelle mein Kollege Matthias von Hellfeld aushelfen, den einige von euch sicher aus dem Podcast „Eine Stunde History“ von Deutschlandfunk Nova kennen.

Matthias von Hellfeld (MvH): „Naja also ich bin zwar schon ein bisschen älter als du, aber dabei war ich natürlich nicht, deswegen kann ich es natürlich auch nicht wirklich beurteilen.“

Matthias von Hellfeld im Interview vom 30.03.2019

… sagt Matthias. Aber trotzdem – finde ich – lohnt sich das gemeinsame Gedankenspiel, denn: Matthias ist Historiker und Journalist und hat über die deutsche Jugendbewegung promoviert und auch das, was mein Großvater damit zu tun hatte. Ich glaube, er kann sich da ganz gut reinversetzen. Also beginnen wir unser Gespräch mit dem, was in den ersten drei Monaten 1939 an Gesetzen erlassen wurde, um Juden noch mehr Bürgerrechte – und damit auch die Lebensgrundlage zu entziehen:

Gespräch mit Matthias von Hellfeld:

Die Anachronistin: Ich hab mich damit beschäftigt, mit den ersten drei Ausgaben von „Die Kameradschaft“ von 1939 Januar, Februar, März – und ich dachte, ich guck mal, was da so los war 1939 im Nazideutschland. Und hab dann gesehen: Am 01. Januar die Namensänderungsverordnung für Juden im Deutschen Reich tritt in Kraft. Oder 22. Februar: Reichsverkehrsminister Julius Dorpmüller verfügt die Einziehung der Führerschein, Fahrzeugscheine und Anhängerscheine, die auf Juden ausgestellt sind. Oder 30. April: In Deutschland tritt das Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden in Kraft, es hebt den Mietschutz für Juden auf – und ich dachte: Meine Güte, wenn das heute passieren würde, in Deutschland – da würden wir doch drüber berichten. Das wäre doch Prio eins, wenn sowas passiert. Hoffen wir. Also wenn wir nicht in einem nationalsozialistischen Regime leben würden. Aber ich hab dann gesucht, ob die irgendwie dazu Stellung beziehen oder was schreiben – und sie schreiben nichts darüber. Und dann hab ich mich gefragt: Warum? Warum schreiben die da nichts drüber, warum ist denen das nicht wichtig? Interessieren die sich nicht für die Juden, oder ist das was Strategisches, da sind ja militärische Ausrichtungen dabei – also überlegen die jetzt: Naja, die sind eh verloren, für die können wir nichts mehr tun, für die setzt sich auch keiner ein – was ja dramatisch ist! – Aber wenn man das strategisch betrachtet und da so tickt, dann ist das ja vielleicht eine logische Konsequenz. Ich dachte, ich frag einfach dich, Matthias, warum glaubst du – oder: Was könnten die Gründe dafür sein, dass sie da gar nicht Bezug drauf genommen haben?

MvH: Eins ist glaube ich relativ schnell erkennbar: Das Denunzieren von Juden, das Entrechten von Juden, das – ähm – ich sag mal an den Pranger stellen ganz allgemein von Juden hat ja eine lange Geschichte, die nicht erst mit den Nazis beginnt, die aber unter den Nazis natürlich sehr verschärft wurde. Und ich könnte mir natürlich vorstellen, dass die – ich sag mal in Anführungsstrichen – abgestumpft waren, was das angeht. Und dass die das zwar möglicherweise mitbekommen haben, aber die Dramatik dessen, was da passiert ist, nicht so richtig einschätzen konnten. Weil sie eben lange vorher mit diesem Thema in abstumpfender Weise beschäftigt waren. Das ist das eine.

Und ich weiß, dass ihr auch sofort wissen wollt, was das andere ist. Aber lasst uns kurz bei diesem Gedanken verharren. Denn ich finde ihn – auch in Bezug auf die heutige Zeit – extrem wichtig. Denn es geht hier um das Normalisieren von Diskriminierung. Es ist nur eine Vermutung. Und nach allem, was ich von meinem Großvater weiß, glaube ich nicht, dass er da abgestumpft war. Und auch Matthias nennt später im Gespräch noch andere Gründe, die in Bezug auf meinen Großvater ausschlaggebend gewesen sein könnten. Aber die Tatsache, dass Antisemitismus damals als Normalzustand galt, die ist wichtig, um zu verstehen, was da passiert ist. Und die ist auch wichtig, um zu verstehen, warum wir uns HEUTE gegen die Normalisierung von Diskriminierung wehren müssen. Warum es wichtig ist, sich gegen die Diskursverschiebung nach rechts, die längst stattgefunden hat, weiterhin zur Wehr zu setzen.

Die Normalisierung von Diskriminierung

Denn, wenn etwas bereits den Weg ins Normale gefunden hat, stumpfen wir ab. Wir werden weniger empathisch gegenüber denen, die diskriminiert werden. Wir sehen sie nicht mehr als Individuen, als Menschen, sondern als Gruppe. Gruppen von Menschen lassen sich leichter zusammenfassen, werden gesichtslos – und lassen sich so leichter diskriminieren. Alle Menschen in dieser bestimmten Gruppe werden über einen Kamm geschoren. Dann sind es nicht mehr Sarah und Levin, sondern „die Juden“ oder nicht mehr Aylin und Cem, sondern „die Türken“ oder „die Muslime“. Dann sind es nicht mehr Rashid und und Sümeira, die aus Syrien geflohen sind, sondern „die Flüchtlinge“.

Und natürlich ist selbst diese Aufzählung hier Klischee. Weil ich alle Menschen einzeln nennen müsste, um es nicht zum Klischee zu machen. Aber ich hoffe, es wird deutlich, was ich damit zeigen möchte: Aus Menschen, mit einer eigenen, individuellen Lebensgeschichte werden Gruppen, die wir meist auch noch anhand bloßer, äußerer Merkmale in irgendwelche Schubladen stecken, auf die wir unsere Vorurteils-Zettelchen kleben – Menschen, die dann am Ende halt einfach zu denen gehören, die in unserer Gesellschaft diskriminiert werden. Kann man nix machen. Ist halt so.

Vielleicht ist das damals so passiert. Vielleicht war der Antisemitismus damals so normal und verbreitet, dass jede weitere Diskriminierung für diejenigen, die nicht davon betroffen waren, nicht weiter ins Gewicht gefallen ist. Wir können das nur mutmaßen. Aber es ist ziemlich sicher, dass der bereits vorhandene, normalisierte Antisemitismus ein fruchtbarer Boden für die ekelhafte Diskriminierung und anschließende Massenvernichtung durch den Nationalsozialismus war. Und das gilt auch für die damals bereits weit verbreiteten Vorurteile und die gesellschaftliche Ablehnung von Roma und Sinti. Oder die auch heute noch in vielen Ländern selbst in Gesetzen verankerte Diskriminierung und Kriminalisierung von Homosexuellen. Alles im übrigen Minderheiten in einer Gesellschaft, was heißt: Die meisten von uns sind eben davon nicht betroffen. Und das macht auch die weitere Ausführung von Matthias klar:

MvH: Das Zweite ist: Wir haben im Kopf, wenn wir davon reden, dass sechs Millionen Menschen irgendwelchen Tätern zum Opfer gefallen sind in verschiedensten Lagern und Vernichtungsstätten und so weiter. Lassen wir mal die Zahl jetzt außen vor und halten uns mal eine andere Zahl vor Augen: Die stammt aus dem 30. Januar 1933, also dem Tag der sogenannten Machtergreifung: Zu der Zeit lebten im Deutschen Reich 599.000 Juden, bei einer Bevölkerung von etwa 80 Millionen macht das einen Prozentanteil von 0,7 Prozent. Von diesen 0,7 Prozent, also knapp 600.000 Leute, sind ungefähr 250.000 Leute in den ersten drei, vier Jahren aus Deutschland emigriert. Teilweise legal, teilweise illegal. Dann bleiben also nochmal, sagen wir rundherum 400.000, 350.000 – irgendwie sowas um den Dreh bleibt da über. Von denen waren sehr viele ganz arme Leute, die in Berlin in den Hinterhöfen lebten, von der Armenküche abhängig waren, von der jüdischen Selbsthilfe und anderen Organisationen. Also sie waren im Grunde genommen natürlich bekannt. Also natürlich kannte jeder in Anführungsstrichen „seinen Juden“ und jeder wusste, in der Nachbarschaft gibt es welche, in der Schule gibt es welche – und so weiter, war schon bekannt. Aber es war tatsächlich in Deutschland nicht ein Massenphänomen, sag ich mal. Insofern war das Verhältnis zu den deutschen Juden ein anderes, als zu dem Gesamtphänomen. Diejenigen Juden, die umgebracht werden sollten und dementsprechend tatsächlich auch umgebracht wurden, das kann man ja an dem Protokoll der Wannseekonferenz nachlesen, kamen aus allen europäischen Ländern. Und da stand diese komische Zahl von elf Millionen drauf, die sicher auch sehr übertrieben war.

Auf jeden Fall, sie kamen eben nicht nur aus Deutschland, sogar zu einem ganz geringen Teil nur aus Deutschland. Insofern hatte das für sie, wie du eben gesagt hast, nicht die höchste Priorität – wahrscheinlich.“

Antisemitismus ist auch Menschenfeindlichkeit

Damit auf gar keinen Fall irgendwelche Missverständnisse aufkommen, will ich hier nochmal kurz reingrätschen: Es geht nicht darum, hier die Grausamkeiten des Nationalsozialismus herunterzuspielen. Es geht darum, die Zeit zu verstehen und die Motive einer Gruppe von Widerstandskämpfern im niederländischen Exil nachvollziehen zu können: Sich eben nicht so intensiv mit dem auseinanderzusetzen, was mit ihren jüdischen Mitbürgern im Reich passiert, sondern andere Themenschwerpunkte zu wählen. Wir befinden uns aktuell im Jahr 1939. Wir wissen also nicht, was da noch kommt, auch wenn es bereits zahlreiche drohende Vorzeichen gibt. Wir wissen, von unseren Freunden, die bereits als politische Gefangene die Lager von Innen gesehen haben, mit welcher Brutalität das Regime gegen seine erklärten Gegner vorgeht. Aber was noch kommen wird, das wissen wir nicht. Es ist extrem schwer, sich das vorzustellen und das zur Seite zu schieben, was wir heute wissen. Es geht nicht darum, die Verbrechen an Jüdinnen und Juden zu marginalisieren. Es geht darum, uns in das Verständnis der Zeit zu versetzen, wohl wissend, was das bedeuten wird. Und das macht auch Matthias hier auch nochmal klar:

MvH: Das Dritte, was man wirklich immer im Kopf haben muss: Sie lebten eben nicht in einer freiheitlich demokratischen Ordnung, wie wir beide, sondern sie lebten in den Verhältnissen eines nationalsozialistischen diktatorischen Staates, der natürlich sehr viele Dinge des Denkens auch verändert hat. Nicht nur des Verhaltens, auch des Denkens. Man muss sich das immer so vorstellen, das können wir nicht, aber man muss es trotzdem versuchen: Wenn du in einem Staat lebst, der dir im Prinzip alles verbietet, was außerhalb einer bestimmten, sehr eng gefassten, vom Staat vorgegebenen und überwachten Norm ist, dann formst du dich dem an. Egal, ob du jetzt dafür oder dagegen bist. Du musst dich irgendwie anpassen, du musst irgendeine Art von Überlebensstrategie entwickeln, um in diesem System nicht sofort hinten über zu fallen – oder du musst abhauen. Dann, was dein Großvater gemacht hat, ist abhauen und von außen sozusagen versuchen zu wirken auf Leute, die im Inneren geblieben sind. Das hat er ja auch mit einigem Erfolg gemacht – und dann bleibt es wirklich tatsächlich eine Vermutung, dass er dachte oder, dass er sich gesagt hat: Das ist nicht unser Hauptthema. Das Hauptthema ist tatsächlich eher gewesen – glaub ich jedenfalls – der humanistische Bruch, der Zivilisationsbruch, der furchtbare Wahnsinn, der sich im gesamten Verhalten dieses Staates abspielte

Die Anachronistin: Auch gegen alle Menschen!

MvH: Ja, alle. Das ist eine antihumane Bewegung. Das ist natürlich auch antisemitisch, antijüdisch, aber Antisemitismus ist natürlich auch Menschenfeindlichkeit, ja? Das trifft dich genauso. Du bist keine Jüdin, aber das trifft dich trotzdem, weil es geht um einen Menschen, der dort angemacht, diskriminiert, verfolgt wird

Die Anachronistin: Ja, um einen Mitmenschen, jemand vielleicht, der mir auch nahe steht, oder …

MvH: Ganz genau. Das war … insofern greift man natürlich viel zu kurz, wenn man sagt, Antisemitismus ist gegen Juden. Natürlich ist das auch gegen Juden, aber es ist auch gegen die Menschlichkeit und gegen den Menschen als solchen. Und die Gruppe, die dein Großvater repräsentierte von Menschen, das waren Leute, die den Menschen als solchen, als humanistisches Wesen, als Gotteswesen von mir aus, als Kreatur der Natur und so weiter, eingeschätzt haben. Und denen war das völlig humpe, ob jemand Katholik oder Protestant oder eben Jude war. Es ging ihnen eben um den Menschen. Und insofern war das eine völlig andere Herangehensweise und auch eine andere Sichtweise, wie man Gemeinschaften und Gesellschaften und Nationen und Staaten aufbaut. Das kann man durch die Schriften hindurch immer wieder entdecken, dass da ganz merkwürdige vielleicht auch, komisch klingende Sätze dann auftauchten, aber immerhin war es etwas völlig anderes.

Und diese Sätze von Matthias möchte ich noch mal ganz fett unterstreichen. Weil das über die Geschichte hinaus einfach wichtig bleibt: Was sich gegen einen anderen Menschen oder eine Gruppe von Menschen richtet, richtet sich immer auch gegen uns selbst als Menschen. Eine Erkenntnis, die banal klingt, aber sich schon so oft im Leben bewahrheitet hat. Und die uns immer wieder in den unterschiedlichsten Zitaten aus den verschiedensten Kulturen begegnet. Hass und Diskriminierung gegen andere fällt immer auch auf uns selbst zurück. Sie schaden der Gesellschaft und dem friedlichen Miteinander – und das betrifft am Ende alle Menschen, die in dieser Gesellschaft leben auf die ein oder andere Weise. Diejenigen, die davon profitieren, weil sie dadurch an Macht und Geld gewinnen, sind selten die Mehrheit. Ich kann den Wunsch verstehen, zu dieser Elite zu gehören. Aber der Weg dahin ist unmenschlich und zerstörerisch – und damit für mich inakzeptabel.

Alle konnten es wissen

Was die Geschichte des Nationalsozialismus vor allem zeigt ist aber, wie lange Menschen schweigen, danebenstehen, zustimmen – solange es nur andere betrifft. Und wie spät sie realisieren, dass auch sie selbst betroffen sind. Und wie unvorstellbar war, was da passiert ist, obwohl es schon frühzeitig genügend Anzeichen gegeben hat, die auf die Katastrophe hingewiesen haben:

MvH: Der Prozess, der Entrechtung von Juden, hat a) tatsächlich mit dem Tag der sogenannten Machtergreifung begonnen und es war eben deshalb so wahnsinnig mächtig, weil es zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit passiert ist, dass ein Staat, mit allen seinen exekutiven, legislativen und judikativen Möglichkeiten, eine Gruppe herausgepickt hat, die mit aller Konsequenz vernichtet wurden. Das hat es wirklich vorher nicht gegeben und deshalb glaube ich tatsächlich, nachdem ich wirklich jetzt Jahre drüber nachgedacht hab, tatsächlich auch, dass viele Leute es möglicherweise einfach nicht für möglich gehalten haben und gesagt: Das muss Quatsch sein, sowas kann sich keiner ausdenken.

Die Anachronistin: Das glaub ich halt auch und wir sind natürlich nach diesem Genozid, nach dieser Massenvernichtung. Das war ja da noch gar nicht abzusehen, ich glaube, das konnte sich wirklich keiner vorstellen und es war ja nicht abzusehen, was die Konsequenz – also, dass diese Menschen irgendwann in Lager abtransportiert werden und vergast werden, das wissen wir heute, aber das wusste man damals ganz sicher ja nicht. Also nicht Anfang 1939.

MvH: Nein, das hat ja auch nicht 1939 stattgefunden, das hat ja auch später erst begonnen. Aber – ähm – man ahnte es sozusagen. Es gibt viele Hinweise darauf, dass die Leute tatsächlich wussten, sie werden abtransportiert und das geht nicht auf eine Vergnügungsreise im Club Mediterrané, sondern das geht natürlich – im besten Falle – in harte Arbeit mit möglichem Tod, im schlimmsten Falle in Vernichtungslager. Das gab es schon als waberndes Gerücht, das Konzentrationslager

Die Anachronistin: Ich glaube, das wusste man auch von den politischen Gefangenen, die Arbeitslager …

MvH: Ja, man wusste das schon, dass es diese Lager gab, und das war ja auch nicht zu übersehen. Es gab 10.101 Lager. Überleg dir das mal. Natürlich auf eine größere Fläche als die heutige Bundesrepublik verteilt, hauptsächlich auch im Osten. Aber trotzdem: Es gab über 10.000 unterschiedlichste Lager: Jugendlager, Straflager, Erziehungslager, Mädchenlager, Frauenlager, Judenlager – und so weiter. Also, dass man das so komplett geheim halten konnte, das war vollkommen ausgeschlossen. Und was eben auch nicht geheim war, und das kommt eben jetzt nochmal auf den Ausgangspunkt wieder zurück: Diese vielen Gesetze, die sie gemacht haben, die Nazis, die sind ja nicht im Geheimen geblieben. Sondern die wurden mit großem Tamtam, wurden die verkündet. Und das ging tatsächlich los mit dem 07. April 1933, das war das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, so hieß das, und mit diesem Gesetz wurden Juden aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Um es mal ganz höflich zu sagen. Das wird in der Menge nicht sehr viel gewesen sein, das wird man vermutlich gar nicht gemerkt haben vom Output der Verwaltung, aber natürlich war es ein erstes Signal sozusagen, dass der Staat sich von diesen Juden sozusagen trennte.

Die Anachronistin: Ne deutliche Stigmatisierung an der Stelle

MvH: Dann hat es ein bisschen Ruhe gegeben, eineinhalb Jahre lang, dann kamen die furchtbaren Nürnberger Rassegesetze, die wirklich an sich schon schlimm genug waren. Was da stand, also was da verboten wurde, nur so für jeden, der das nicht weiß, also Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nicht-Juden war verboten, wurde tatsächlich unter Strafe gestellt, mit Gefängnis bestraft. Eheschließung sowieso. Und der Sinn dahinter in Anführungsstrichen war, dass man das reine, gute arische Blut sauber halten wollte von dem schlichten, negativen, jüdischen Blut, was ein völliger Mumpuck ist …

Die Anachronistin: Da wird mir jetzt schon wieder schlecht, wenn ich das höre.

MvH: Das war eben trotzdem so. Und diese Rassen, das war ein Rassenantisemitismus, der dann tatsächlich auch blutrünstig war, aber worauf ich eigentlich hinauswollte war: Die Bevölkerung in Deutschland wurde dann noch einmal seziert also, meine Mutter hat das machen müssen in der Schule, einen sogenannten Ahnennachweis führen. Und der bedeutete, dass man sechs, möglichst sieben Generationen zurück belegen sollte, mit einer Ahnentafel, die dann sehr schön aufgemalt wurde mit deutscher Schönschrift gemacht wurde. Und diese Ahnentafel sollte also belegen, dass man nicht irgendeinen Urururvorfahren hatte, der eben jüdischer Abstammung war oder selbst Jude war. Und dann wurde aufgeteilt in Halbjude, Vierteljude, Achteljude, Sechszehnteljude – stell dir das mal vor! Und in diesen Nürnberger Rassegesetzen, die fanden dann hinterher wiederum ihren Nachhall in den berühmten, berüchtigten Wannseeprotokoll nach der Wannsee-Konferenz Januar 1942 in einer kleinen Berliner Villa am Wannsee – und dort rekurrierten die dort sitzenden Verbrecher eben auch darauf, dass man ja auch überlegen müsse, was man denn eigentlich mit den Achteljuden macht? Ja. Welche Restriktionen denn die haben sollten …

Die Anachronistin: Damits auf jeden Fall noch Restriktionen gegen die gibt?

MvH: Nee, die könnte man ja sterilisieren, die könnte man auch zur Arbeit zwingen, und so weiter. Der … der … der Wahnsinn sozusagen, der da hinter steckt, dieser bürokratische Vollwahnsinn hat ja tatsächlich dieses Land durchzogen seinerzeit. Und insofern ist das natürlich für uns eine unvorstellbare Katastrophe, das ist tatsächlich ein Zivilisationsbruch ungeheuren Ausmaßes, den haben wir bis heute wahrscheinlich nicht verarbeitet. Das gilt bis heute im Übrigen für andere Räume der Erde auch. Also Asien wird wahrscheinlich das mit den Chinesen und Mao Tse Tung, da war es ein ähnlicher Zivilisationsbruch so leicht nicht verarbeitet haben. Pol Pot in Kambodscha, also die – es gibt halt so wirklich Katastrophen in der Geschichte von Menschen, die eben bei uns in diesem Falle im 20. Jahrhundert die Nazis waren, aber das ist für uns im Nachhinein erst zu erkenne. Für die Leute, die dabei waren, will ich mal unterstellen, dass es ein großer Teil wahrscheinlich so gar nicht begriffen hat. Einfach weil sie möglicherweise sich das auch gar nicht vorstellen konnten, dass das wirklich passiert. Und dass sie das ernst meinen.
Ich will mal so als ganz kleines Beispiel, das ist auch nicht gut zu vergleichen, aber vielleicht hilft es eben doch: Wir werden uns in ein paar Jahren überlegen: Was hat eigentlich alles Donald Trump erzählt? Und, warum haben wir eigentlich nichts dagegen – warum lassen wir uns das gefallen? Dann stellen wir fest: Boah, das war ja das und das. Damit ist das gesamte Weltwirtschaftssystem kaputt gegangen – oder irgendetwas. Keine Ahnung. Ich fantasiere jetzt. Insofern muss man einfach, wenn man Geschichte betrachtet tatsächlich die Chips beiseite legen und sagen: Ich versuch mich mal ins Jahr 1933 zurückzuversetzen. Das wird nicht funktionieren, deswegen muss man einfach sehr vorsichtig sein mit seinen Urteilen. Und das gehört eben einfach dazu, dass man sagt: Vielleicht hat Theo Hespers da gesessen und das wirklich auch falsch eingeschätzt.

Ja, vielleicht hat er das falsch eingeschätzt. Vielleicht war das aus damaliger Sicht aber auch nicht die größte Bedrohung. So zynisch das klingt. Aber da sitzt eine Generation, die geprägt ist durch den Ersten Weltkrieg. Dieses sinnlose Gemetzel, das Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Egal welcher Herkunft, egal welcher Religion. Wer das genauer wissen möchte, kann sich ja noch mal mit den Einzelheiten des Ersten Weltkrieges beschäftigen. Wir hatten den in der Schule schön beiseite gelassen. Nach der Industrialisierung kam bei uns im Prinzip gleich die Weimarer Republik. Wie grausam bereits der Erste Weltkrieg war, damit hab ich persönlich mich erst vor kurzem beschäftigt.

Aber diese Männer, die da im Exil zusammensitzen, haben alle ihre Erfahrungen mit dem Ersten Weltkrieg. Plato – also Hans Ebeling – hat sich dort als Leutnant der Artillerie seine ersten Orden verdient. Und es war bereits klar, worauf die Bemühungen der Nationalsozialisten hinausliefen: Nämlich auf einen weiteren Krieg. Und das sollte um jeden Preis verhindert werden. Nicht unbedingt, weil alle Mitglieder des Widerstandskreises Pazifisten gewesen wären. Aber die Sinnlosigkeit des Ersten Weltkrieges hatte ihre Spuren hinterlassen. Und es schien Einigkeit darüber zu herrschen, dass der einzige Krieg, den sie noch bereit waren zu führen, der gegen Hitler war.

Den Widerstand am Leben halten

Ein Krieg, der zum Sturz des NS-Regimes führen würde. Oder eben aber eine Revolution aus dem Volk heraus. Und um diesen Widerstand zu schüren, hätte es keinen Sinn gemacht, sich zu den Repressalien gegen die Juden zu äußern. Die Menschen mussten da erreicht werden, wo es sie selber betraf. Und vielleicht haben mein Großvater und seine Mitstreiter eben genau das versucht, wohl wissend, dass allein das schon extrem gefährlich ist.

Die Anachronistin: Ich hab immer so manchmal ein bisschen das Gefühl, die versuchen innerhalb ihrer Peer Group sozusagen das Feuer am Köcheln zu halten, anstatt nochmal auf jemand anderen zu verweisen. So tragisch ich das aus heutiger Sicht finde. Aber ich versuche ja auch, das zu verstehen, und trotzdem konnte ich mich diesem Gefühl nicht verweigern zu sagen: Ich finds trotzdem enttäuschend, deswegen bin ich total froh, dass du’s mir nochmal erklärst, damit ich’s verstehen kann. Denn natürlich hätte ich es auch total gerne, dass mein Großvater sich auch für die jüdischen Mitmenschen eingesetzt hat. Und die haben diesen Artikel veröffentlicht nach der Reichspogromnacht und haben auch gesagt, dass Pogrom ein Euphemismus ist für das, was da stattgefunden hat. Also für diese Kaltblütigkeit, mit der da vorgegangen ist, da ein Pogrom eigentlich emotional einzigartiges Ereignis ist und nicht eben organisiert. Da haben die sich schon sehr deutlich positioniert. Aber danach lassen die das Thema halt wieder fallen – und ich dachte: Eigentlich müssen die das jetzt auf dem Schirm haben. Aber wahrscheinlich ist es einfach – hust – aus der Zeit heraus gedacht zu viel verlangt.

MvH: Ja und es gibt noch einen zweiten Begriff, da wirst du genauso Schiffbruch erleiden. Das war der Antikommunismus. Ich will mal ein Beispiel sagen, was mich sehr erstaunt hat: Also Stauffenberg, das ist ja der große Held des 20. Juli, das hat er auch wirklich, er hat da tatsächlich eine sehr mutige Tat vollbracht. Das hätte bestimmt nicht jeder gemacht. Aber die Idee hinter dem 20. Juli und hinter dem Kreisauer Kreis war, den Krieg im Westen zu beenden, um ihn im Osten mit voller Härte weiterführen zu können. So und da kann man jetzt auch lange drüber diskutieren und man kann sagen, ja, das waren auch alles Gangster, die da saßen. Stalin war wirklich kein Freund von Gefälligkeiten. Tatsächlich gab es in der Sowjetunion tatsächlich Leute, die am liebsten Europa bis zur portugiesischen Atlantikküste überrennen wollten und so weiter. Das war alles richtig. Und insofern war Stauffenberg sozusagen mit Churchill auf einer Linie, der immer schon gesagt hat, wir müssen gucken, dass wir hier den Westen befrieden, weil der Hauptgegner, der sitzt im Osten. Ja, das hätte den Kontinent genauso in den Krieg gestürzt wie das gescheiterte Attentat für gesorgt hat, dass in den letzten paar Monaten des Krieges mehr Menschen umgekommen sind als in den Jahren davor. Also die, die, der Wahnsinn sozusagen, den wir heute betrachten, den konnten die Leute damals tatsächlich nicht überblicken. Es war, es war nicht übersehbar, dass dieses Attentat scheitert und wenn es scheitert, dass Hitler mit unverminderter Härte, eher noch mit größerer Härte weitermacht. Er hat das Deutsche Volk zum Abschuss freigegeben. Das war sein Zitat. Er sagt, die sind nicht Wert, dass sie Europa beherrschen, dann müssen sie eben untergehen. Ich meine, das sind Dinge, die wussten die Leute damals nicht. Die wissen wir heute, weil es irgendeiner von seinen Adjutanten – ich weiß gar nicht genau, wer es aufgeschrieben hat, jedenfalls irgendeiner hat es aufgeschrieben, Und das geht auch bei der Kameradschaft so und bei den ganzen anderen Leuten, die dann irgendwo im Deutschen Reich muss man ja sagen, gesessen haben und sich dieses Heftchen durchgeblättert und gelesen haben und dann auch immer Angst haben mussten, dass sie dann erwischt werden, weil sie ja wussten, dass das verboten ist. Und dann mussten sie es verstecken und dann durften sie nicht drüber reden oder nur mit Leuten, von denen sie ganz sicher waren und so weiter. Es war eine Situation in der man sich tatsächlich sehr vorsichtig äußert. Und dann kommt nochmal auf Antisemitismus wieder zurückzukommen, wenn du dann dich sozusagen gegen den Antisemitismus der Gesellschaft auch noch stellst, dann wirst du ja noch ein größerer Außenseiter. Dann wird deine Position ja noch komplizierter. Und dann sagst du dir: Ja, aber ih kannte gar keinen Juden. Aber ich weiß von anderen Berichten, dass Leute dann einfach jüdische Freunde versteckt haben. Die haben überhaupt nichts dabei gedacht, die haben gesagt, das versteck ich jetzt. Denen war das völlig egal, ob Theo Hespers oder wer auch immer irgendwas geschrieben hat. Sondern die haben das einfach gemacht. Die Berichte von den Leuten, die dann versteckt wurden, die zeugen ja von heroischen Taten einzelner Perseonen. Das haben die gemacht, weil sie das einfach wollten. Die brauchten keinen Text dazu. Deshalb weiß ich auch gar nicht, ob es etwas gebracht hätte, wenn er etwas geschrieben hätte. Weil so etwas tust du, weil du dem Mensch ein Mensch sein willst. Und nicht, weil du denkst, es ist heldenhaft, gegen den Antisemitismus zu kämpfen. Weil das ist sowieso klar.

Die Anachronistin: Und das wäre ja auch eigentlich aus der Motivation heraus viel zu gefährlich. Also die wussten ja im Zweifel auch, wenn sie da jetzt irgendwie Leute motivieren, dass sie diese Menschen auch wieder in Gefahr bringen. Die haben ja schon versucht, einen Widerstand so zu züchten, der so aus Haltung besteht, aber die Leute nicht so richtig in Gefahr bringt. Das muss man sich vielleicht ja auch überlegen: Wie kann ich überhaupt in so einem System Widerstand leisten, ohne dass nachher irgendwie gar keiner mehr da ist, der in irgendeiner Form sich irgendwie widersetzen kann. Weil die sterben ja dann im Zweifel auch alle.

MvH: Hespers und Ebeling, die wussten sehr genau, dass die Leute, die sie ansprachen, viel jünger waren und tatsächlich überhaupt keine Erfahrung in konspirativen Handlungen und Taten hatten, die vielfach wirklich auch geradezu naiv und schrecklich unvorsichtig gehandelt haben. Also wenn man sich überlegt, was Mike Jovy, der ja auch diese Schriften alle gelesen hat und in Paris war bei Karl Otto Paetel, einem Widerstandskämpfer und der später nach New York emigrierte, war. Und wie das dann, wie die darüber berichtet haben sozusagen, und wie sie auch darüber erzählt haben. Wie sie in ihren Fahrtenbüchern das aufgeschrieben haben, da denkst du dir: Ja sag mal, habt ihr sie eigentlich noch alle auf der Waffel? Das geht doch nicht! Du kannst doch nicht in so einer Situation das auch noch alles aufschreiben!

Die Anachronistin: Ja, aber das haben sie gemacht. Was natürlich für uns gut ist, weil wir heute darin lesen können und wir wissen ja auch nicht, was sie diskutiert haben. Wir wissen, was sie am Ende veröffentlicht haben, aber wenn wir mal so an Redaktionskonferenzen denken: Nicht alles, was gedacht und gesprochen wird, wird ja nachher auch veröffentlicht. Das ist ja sozusagen eine Essenz aus dem, was diskutiert wird. Und die werden sich da schon auch Gedanken gemacht haben und wenn ich das richtig verstanden hab, aus dem was an Nachlass da ist, haben die sich durchaus echt auch ordentlich gefetzt in Briefen und widersprochen und verschiedene Standpunkte diskutiert und so. Das war jetzt nicht so, dass sie alle einer Meinung waren. Und von Plato wissen wir, von Hans Ebeling, der war durch und durch Militarist, der war durch und durch Stratege. Das ging meinem Großvater völlig ab. Der war einfach ein schlechter Schachspieler, hat’s immer wieder versucht, war halt nicht so ein guter Stratege, hat viel – oder ich nehme ihn so wahr, dass er mit dem Herzen denkt, als über Strategie nachdenkt.

MvH: Also ich würde sogar sagen, dass für die Jugendbewegung, die deinen Großvater gelesen haben, oder die davon beeinflusst waren, war Streit geradezu konstituierend. Da gab es sehr, sehr viele unterschiedliche Strömungen, teils in Nuancen, teils in richtigen, gravierenden Problemen. Da gab es die Leute, die sehr christlich geprägt waren, da gab es die Leute, die waren zum Teil sehr antichristlich, antiklerikal gegen jede Form von beweihräucherndem, sabberndem Christentum, das dass sie sich eingeengt, dass sie da sehr unterschiedlich waren, das ist sozusagen tatsächlich stilprägend und das beschreibt das, worum es ihnen geht. Es war keine kohärente Gruppe. Es war keine Gruppe, die ein geeintes Ziel hatte. Überhaupt nicht,. Die hatten ein sehr vages Ziel einer sehr anderen Gesellschaft. Einer Kreation einer neuen Gemeinschaftsform für freie Menschen. Aber das sind alles Kalendersprüche. Das ist Dalai Lama in alt.

Die Anachronistin: Aber Kalendersprüche, die halt extrem gefährlich waren. Das muss man leider so sagen. Matthias ich danke dir ganz, ganz herzlich für deine erneute Einschätzung, das hilft mir immer sehr weiter und ich hoffe, den Hörer*innen von „Die Anachronistin“ auch und ich danke dir sehr.

MvH: Bitteschön.

Die in kursiv geschriebenen Absätze gehören zum Transkript des Interviews, das ich am 30. März 2019 mit Matthias von Hellfeld geführt habe.

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