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Episode 39

Zwei Sommer in Amsterdam

Sommer 2018. In Amsterdam wird die Canal Pride gefeiert – wild und bunt. Und mitten in diesem bunten Trubel finde ich das einstige Büro von Selma Meyer, die in den 1930er Jahren deutschen, homosexuellen Jugendlichen auf der Flucht geholfen hat.

In der Invertito ist ein Foto vom Gebäude, in dem das Holland Typing Office von Selma Meyer war. Auf dem Buch liegen Karteikarten mit den Namen zweier geflüchteter Junger Männer aus Deutschland.

Fast 30 Grad im Schatten. Um mich herum wuseln Menschen mit Regenbogenflaggen und wackelnden Penis-Hörnchen-Haarreifen. Sie plappern fröhlich. Ein Mix aus Sprachen. Es ist Canal Pride in Amsterdam. Hinter mir rattert eine Bahn vorbei, Fahrräder, Bromfietsen … mir wird ganz schwindelig, während ich auf das Haus starre, in dem die Widerstandszeitschrift Kameradschaft entstanden ist.

Es ist eingehüllt in eine riesige, weißgraue Plastikplane. Renovierungsarbeiten. Plötzlich habe ich das Gefühl, in einem Wurmloch zu stehen. Vor meinem inneren Auge ist gerade 1938, während in der Realität der 04. August 2018 ist. Gaypride in Amsterdam.

Es gibt diese Momente, in denen ich die Geschichte förmlich fühlen kann. Es ist eine fast körperliche Art des mentalen Begreifens. Im ICE nach Amsterdam habe ich noch einmal die invertito durchgescannt. Das Buch, in dem der Berliner Wissenschaftler Andreas Pretzel über die Bedeutung von Homosexualität im Widerstandskreis um Plato, meinen Großvater und Selma Meyer geschrieben hat. Denn ich plane schon die ganze Zeit diesen Artikel hier zu schreiben. Den Artikel über den Sommer 1938, in dem sich die Dinge in Deutschland weiter zuspitzen – und die zahlreiche junge Menschen, vor allem Männer, dazu veranlassen, zu fliehen.

Die Nazis erkennen Jüdinnen und Juden weitere Bürgerrechte ab. So dürfen sie zum Beispiel keine Geschäfte mehr besitzen. Die Verfolgung „bündischer Umtriebe“ und damit von Homosexuellen wird intensiviert. Und als wenn das nicht alles schon schlimm genug wäre, will die Reichsjugendführung jetzt auch noch stärker in das Leben junger Menschen eingreifen als eh schon. Sie verlangen eine Meldepflicht aller Schulabgänger und intensivieren ihre Bemühungen, Jugendlichen genau solche Lehrstellen schmackhaft zu machen, die der Rüstungsindustrie zuträglich sind. Wer in der Hitlerjungend (HJ) war und seine „weltanschauliche Eignung“ unter Beweis gestellt hatte, wurde natürlich bevorzugt behandelt. Es ging allerdings keinesfalls darum, sich seinen Traumjob aussuchen zu können. Wer nicht in der HJ war, hatte gar keine Chance mehr auf einen Job. Das brachte nicht wenige Jugendliche, die keinen Bock hatten, sich anzupassen, in große Schwierigkeiten. Und deshalb versuchten nicht nur immer mehr Juden aus Deutschland weg zu kommen. Auch die Zahl der jugendlichen Flüchtlinge nahm zu.

Zwischen Canal Pride und Vergangenheit

Mit diesen Gedanken stehe ich vor diesem in Plastikplanen eingehüllten Haus in der Damrak 44 in Amsterdam. Hier treffen sich Vergangenheit und Gegenwart auf eine Weise, die mich tief bewegt. Denn hier befand sich das Schreibbüro von Selma Meyer, das Holland Typing Office, kurz HTO genannt. Hier hat mein Großvater regelmäßig seine Artikel verfasst, hier hat Plato alias Hans Ebeling gearbeitet – und hier wurde den jungen Flüchtlingen aus Deutschland ermöglicht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Inzwischen weiß ich auch: Nicht nur Plato und viele der deutschen Flüchtlinge waren homosexuell, sondern auch Selma Meyer. Und während all diese Menschen vor 80 Jahren – und auch noch lange danach – diesen Teil ihrer Persönlichkeit geheim halten mussten, während sie lange Zeit verfolgt, bedroht und gefoltert wurden, ziehen heute fröhliche Menschen mit Regenbogenflaggen durch die Straßen und feiern Vielfalt und Freiheit.

Was. Für. Eine. Errungenschaft!

Mir war nie so klar wie in diesem Moment, wieviel das eigentlich bedeutet. Wieviel Leid auf der Welt verursacht wird, weil Menschen nicht so lieben und leben dürfen, wie sie nunmal empfinden.

Aber das ist längst nicht alles. Hier in Amsterdam, nur drei Minuten vom Bahnhof entfernt, ist mein Großvater ein- und ausgegangen. Er ist im selben Bahnhof aus der Bahn gestiegen, wenn er aus Eindhoven kam. Er ist genau wie ich drei Minuten bis zu dieser Stelle gelaufen. Vielleicht war er sogar ein bisschen schneller, weil damals sicher weniger Verkehr war. Und dann ist er in dieses Haus gegangen, dessen Eingang sich gerade hinter einer Baustellenholzwand befindet. Hat hier zusammen mit seiner Geliebten Toos gesessen und gearbeitet, die von Selma abonnierten deutschen Zeitungen gelesen und sich sicher fürchterlich darüber aufgeregt.

Ich könnte Stunden vor diesem Haus verbringen und mir vorstellen, was er und die anderen dort gemacht haben. Wie sie gearbeitet und diskutiert haben. Recherchiert, ausgewertet, analysiert – und neu zusammengefasst. Ab Frühjahr/Sommer 1938 scheinen sie dabei einige Schwierigkeiten zu haben, denn der monatliche Erscheinungsrhythmus wird unterbrochen. Zwischen April und Dezember erscheinen lediglich drei Ausgaben: Nr. 9 für April/Mai, Nr. 10 für Juli/August und Nr. 11 für September/Oktober. Es klingt wahrscheinlich, dass es eine Frage des Geldes war. Denn sie benötigten jetzt nicht mehr nur Geld, um die Widerstandszeitschrift produzieren zu können. Sie mussten auch für immer mehr junge Männer den Lebensunterhalt mitfinanzieren.

Wie Selma Meyer homosexuelle Geflüchtete unterstützt

Dieses Geld hat vornehmlich Selma Meyer besorgt. Zusammen mit ihren beiden Zwillingsbrüdern. Einer davon arbeitete direkt gegenüber vom HTO an der Börse. Sowohl Selma als auch ihre Brüder hatten gute Beziehungen in die Amsterdamer Gesellschaft. Um dieses Geld offiziell sammeln und verteilen zu können, gründeten sie 1937 das „Comité voor Jeugdige Duitsche Vluchtelingen“ – also das Komitee für jugendliche deutsche Flüchtlinge. Ein ziemlich schwieriges Unterfangen, wie diese Textstelle aus der invertito, Seite 77 zeigt:

„Sie [Selma Meyer] stellte Büroräume, Hilfskräfte und Schreibmaschinen zur Verfügung und abonnierte zugleich eine Vielzahl deutscher Tageszeitungen als wichtige Informations- und Auswertungsquelle. Im dritten Stock ihres Firmengebäudes amtierte das Redaktionsbüro der Kameradschaft, Firmenmitarbeiter eröffneten unter ihrem Namen Postscheckkonten, um den Finanzverkehr für die „Deutsche Jugendfront“ abzuwickeln. Auch bot ihr Unternehmen den Emigranten Beschäftigung und Nebenerwerb durch Adressenschreiben und Botendienste bis hin zu Übersetzungesarbeiten – immer auch am Rande der Legalität angesichts der restriktiven Bedingungen, denen Flüchtlinge in den Niederlanden ausgesetzt waren. Politische Tätigkeit und Erwerbsarbeit waren Flüchtlingen verboten.
Wenngleich die Unterstützung junger deutscher Flüchtlinge seit 1937 geplant war und durch die großzügige Unterstützung von Selma Meyer vorläufig auch gewährt werden konnte, so geriet dieses Engagenment doch an die Grenzen des Finanzierbaren, als ab 1938 immer neue Flüchtlinge eintrafen.“

invertito – Jahrbuch der Homosexualitäten, Jg. 8, 2006, S. 77

Einer der ersten jungen Emigranten, die Hans Ebeling und Selma Meyer im HTO beschäftigen ist Heinrich Hans, damals gerade 23 Jahre alt. Selma Meyer bezeichnet ihn in einem Verhör als „gutmütigen Riesen“*, der nie politisch tätig war und auch nicht für die Kameradschaft gearbeitet hat.

Heinrich Hans läuft Plato bereits 1937 in Brüssel in die Arme. Dass Heinrich Hans wirklich nie politisch tätig war, wird die Gestapo Selma Meyer wohl eher nicht geglaubt haben. In einer Fußnote in der invertito Seite 84 findet sich folgender Eintrag:

„Heinrich Hans war im August 1933 „wegen Singens kommunistischer Lieder“ für vier Monate ins KZ Osthofen gesperrt worden. Nachdem er zur Wehrmacht einberufen worden war, desertierte er im Mai 1937, flüchtete zunächst nach Frankreich und dann nach Belgien, wo er Hans Ebeling kennenlernte.“

invertito – Jahrbuch der Homosexualitäten, Jg. 8, 2006, S. 84

Letzteres bringt den gutmütigen Riesen Heinrich Hans auch in Belgien schwer in Bedrängnis. Denn als Fahnenflüchtiger droht ihm die Abschiebung. Deshalb lässt Selma Meyer ihn über ihren Buchhalter illegal über die Grenze ins holländische Amsterdam bringen.

„Um ihn dem Zugriff der belgischen Polizei zu entziehen, fasste das Komitee den Plan, ihn schwarz nach Holland zu bringen. Ich wurde nun in diese Sache eingeweiht und erklärte mich bereit mitzumachen. Da ein Komiteemitglied nicht nach Belgien fahren konnte, waren wir auf der Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit, die es versuchen würde, Hans heimlich über die Grenze zu bringen. Ebeling und ich traten gemeinsam an Christian D u n k e r s, der bei mir Buchhalter ist, heran und baten ihn, den Auftrag auszuführen. Wir wählten in erster Linie Dunkers, weil er aus dem Grenzort Breda stammt und die Verhältnisse an der Grenze kannte. […] Dunkers fuhr mit deinem Tandem nach Belgien und brachte es tatsächlich fertig, Hans nach Amsterdam zu bringen. In Holland wurde nun Hans vom Komitee legalisiert und betreut.“

Verhör Selma Meyer vom 21. November 1940, R3018-15439

Ich vermute mal, „legalisiert“ bedeutet, dass es dem Komitee gelang, Heinrich Hans Papiere zu besorgen, damit er sich legal in den Niederlanden aufhalten konnte und nicht mehr mit einer Abschiebung rechnen musste. Auch wenn das bereits vor 1938 war: Durch die Kontakte von Heinrich Hans gelangen weitere Flüchtlinge in die Amsterdamer Kreise. Nicht alle davon waren homosexuell. Und nicht alle erweisen sich als vertrauenswürdig. Aber davon in der nächsten Folge mehr …

* Eigene Niederschrift von Selma Meyer vom 8.11.1940, R3018-15439

Die Instastory aus Amsterdam:

Personen:

Theo Hespers – Widerstandskämpfer, Mitherausgeber der Widerstandszeitschrift „Die Kameradschaft“

Dr. Hans Ebeling „Plato“ – Widerstandskämpfer, Mitherausgeber der Widerstandszeitschrift „Die Kameradschaft“

Selma Meyer – Friedensaktivistin, Unternehmerin und Inhaberin des Holland Typing Office HTO

Heinrich Hans – in den Akten auch als Heinz Hans zu finden, erster Emigrant im Kreis der Kameradschaft

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