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Episode 9

Zwischen den Zeiten – Teil 2

Mir ist von Anfang an klar, dass ich die Stellen finden werde von denen Matthias gesprochen hat. Die Stellen, die darauf hinweisen, dass während des Verhörs irgendetwas passiert ist. Besonders lange muss ich dazu nicht lesen. Es ist ein spezieller Moment. Einer, der sich nicht so leicht in Worte fassen lässt.

Auszug von der ersten Seite des Verhörprotokolls im Reichssicherheitshauptamt in Berlin vom 11. Juni 1942. Die ersten Zeilen lauten "Aus dem Hausgefängnis vorgeführt erscheint der Schutzhäftling Theodor Hespers ..." Es folgen persönliche Daten.

Mir ist von Anfang an klar, dass ich die Stellen finden werde von denen Matthias gesprochen hat. Die Stellen, die darauf hinweisen, dass während des Verhörs irgendetwas passiert ist. Besonders lange muss ich dazu nicht lesen. Es ist ein spezieller Moment. Einer, der sich nicht so leicht in Worte fassen lässt.

Inzwischen sitzen mir eine Frau Mitte Fünfzig und ihre Tochter gegenüber. Sie nehmen kaum Notiz von mir, worüber ich sehr dankbar bin. Ich lese mich durch das Verhörprotokoll vom 13.06.1942. Die Gestapo will wissen, was passierte nachdem mein Großvater Deutschland verlassen hat. Er erzählt davon, dass Freunde aus Deutschland ihn in Melik besucht haben, in der kleinen Bruchbude knapp hinter der holländischen Grenze in der Nähe von Roermond. Dass die Gestapo von dem Besuch weiß liegt daran, dass bereits damals ein Spitzel auf meinen Großvater angesetzt worden war – und der lebte direkt im Nachbarhaus. Nicht, dass mein Großvater das gewusst hätte. Denn für so wichtig hat er sich nicht gehalten, dass die Nazis extra einen Spitzel auf ihn ansetzen. Aber bleiben wir beim Vernehmungsprotokoll:

„Wenn ich heute noch Namen von dieser mich damals besuchenden Gruppe, die aus ca. 8 Personen bestand, nennen soll, so muss ich sagen, dass mir das heute sehr schwer fällt. Ich weiß nur noch, dass unter ihnen zwei von meinen alten Bekannten waren, die die Vornamen Fritz und Peter trugen […] auf deren Zunamen ich mich zurzeit aber tatsächlich nicht entsinnen kann…“

Aus dem Verhörprotokoll von Theodor Hespers, 13.06.1942

Nennt mich verrückt, aber an der Stelle hab ich ein schreckliches Dejavu in die Kindheit. Genauer gesagt: ans Kasperle-Theater. Alle Kinder sehen das Krokodil hinterm Vorhang, aber Kasperle natürlich nicht. Und die Kinder schreien: „Kasperle, da! Da ist das Krokodil! Pass auf!“ und sind ehrlich in Sorge, weil sie das Spiel mitspielen. Die Verhörprotokolle zu lesen ist wie eine erwachsene und sehr düstere Version davon. Ich lese diese Zeilen und denke: das hat er nicht wirklich versucht. Er muss doch wissen, dass sie ihn damit nicht durchkommen lassen! Opa, sei nicht dumm! Sie werden es, wenn nötig, aus dir herausprügeln! Ich weiß das. Und du musst es doch auch gewusst haben. Wieso machst du das? Das ist doch Irrsinn!

Schon die nächste Zeile verrät, dass sich diese düstere Ahnung bestätigt. Dass sie ihm klar gemacht haben: diese Version deiner Geschichte kaufen wir dir nicht ab:

„Ich erkläre mich ohne weiteres bereit, sämtliche Namen zu nennen und habe nicht die Absicht, irgendetwas zu verschleiern. Es ist mir im Augenblick tatsächlich nicht möglich, die genauen Namen anzugeben und ich werde mich bemühen, sie in meine Erinnerung zurückzurufen…“

Aus dem Verhörprotokoll von Theodor Hespers, 13.06.1942

Vor meinem inneren Auge flimmern ganz vage brutale Verhörszenen. Ich will sie nicht sehen. Ich versuche mir gleichzeitig vorzustellen, wie diese nüchternen Zeilen zustande gekommen sind und wie die Situation wirklich war. Geht hier die Phantasie mit mir durch? Haben sie ihn vielleicht wirklich nur mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass er die Wahrheit sagen muss?

Das Bedrohlichste sind die Pausen

Wenn das stimmt, was Matthias sagt – und davon gehe ich mal aus – werden sie nicht zimperlich gewesen sein. Ich blätter die Seite um und nach wenigen Zeilen ist klar: die Realität war wahrscheinlich weitaus schlimmer als das, was ich imstande bin mir vorzustellen. Das Verhör wird unterbrochen. Keine Unterschrift von meinem Großvater. Wahrscheinlich, weil er nicht mehr in der Lage war zu unterschreiben. Stattdessen im oberen Drittel derselben DIN-A-4-Seite der Vermerk:

„Fortgesetzt am 15.06.1942“

Aus dem Verhörprotokoll von Theodor Hespers, 13.06.1942

Zwei Tage Pause. Es hat also zwei Tage gedauert, bis mein Großvater wieder vernehmungsfähig war. Das fortgesetzte Verhörprotokoll beginnt direkt mit der Auflistung von sieben Namen, die zu dieser Besuchergruppe gehört haben. Vollständig – Vorname, Nachname, Wohnort. Die Namen sind der Gestapo bereits bekannt. Viele Personen dieser Gruppe wurden bereits 1934 festgenommen und zu Haftstrafen verurteilt. Mein Großvater hätte sie nicht mal verraten. Aber vielleicht wusste er das nicht, was ich bei seinen Kontakten nach Deutschland nicht glauben kann. Oder er wollte es der Gestapo nicht so leicht machen. Zeigen, dass sie ihn nicht klein kriegen werden. Ein ziemlich hoher Preis für Stolz und Ehre den er da bezahlt. Auf der anderen Seite: die Gestapo ist eh nicht wirklich an der Wahrheit interessiert, sondern nur an Beweisen für etwas, das eh schon feststeht. Nämlich dass mein Großvater eine linke Bazille ist, ein Vaterlandsverräter, ein Feind des Systems.

Ich sage laut: „Krass!“ und starre aus dem Fenster. Mutter und Tochter am Tisch gegenüber schauen mich verständnislos an und grinsen etwas verlegen. Ich lächle zurück und kämpfe ein bisschen mit den Tränen. Ich will hier keine Betroffenheit vorheucheln. Es geht mir nicht um das Drama. Die Tragik liegt in der Geschichte selbst. Da kann ich nichts für. An guten Tagen kann ich mich dieser Tragik ganz passabel entziehen. Dann weiß ich: das ist schlimm, das ist passiert, aber das ist nicht jetzt. Und ich will meine Empfindungen auch nicht von Erwartungen bestimmen lassen. Nicht auf die dramatischen Momente lauern, um dann in einem Meer aus Tränen zu versinken. Das ist mir zu viel. Und das wird der Sache nicht gerecht. Denn darum geht es nicht.

Haben wir aus der Vergangenheit gelernt?

An schlechten Tagen nimmt es mich gefangen. Denn: klar, das ist nicht jetzt, aber das ist meine Familie. Das ist mein Großvater, den sie verhören, foltern und quälen. Und zwar für etwas, das wir heute als demokratische Pflicht ansehen würden – und was er damals auch als demokratische Pflicht angesehen hat. Und dann sehe ich, was gerade auf Deutschlands Straßen passiert und frage mich: haben wir als Gesellschaft wirklich nichts dazu gelernt? Kann es sein, dass tausende Menschen einem deutschlandweit bekannten Nazi hinterherrennen, weil sie mit ihm „in der Sache“ übereinstimmen? Das sind die Tage, die mich echt fertig machen. Nicht, weil Menschen demonstrieren und eine Meinung kundtun, mit der ich mich null identifizieren kann. Sondern weil sie wie die Lemminge hinterherlaufen ohne den eigenen Kopf zu bemühen. Ohne sich Fragen zu stellen. Und ohne einen einzigen Blick auf die Konsequenzen einer solchen Denkweise werfen. Aber das nur am Rande.

Ich weiß nicht, wie viele Minuten vergehen, bis ich in der Lage bin weiterzulesen. Aber allzu lange lasse ich mir nicht Zeit. Berlin ist nur viereinhalb Stunden entfernt, die Akte ist dick und ich habe einen Termin auf den ich mich vorbereiten will. Denn zufälligerweise ist einer meiner Freunde dort extrem gut informiert, was die Zeit zwischen 1933 und 1945 angeht. Und er kennt die ganzen historischen Gebäude in Berlin. Deshalb hab ich mich mit Dirk vor der „Topographie des Terrors“ verabredet, Niederkirchner Straße 8 – ehemals Prinz-Albrecht-Straße. Dort war das Hausgefängnis der Gestapo – der Ort an dem die Akten entstanden sind, die gerade vor mir auf dem Tisch liegen.

Personen:

Theodor Hespers = mein Großvater

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