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Episode 33

Die Kameradschaft: Schriften junger Deutscher. Teil 1

November 1937 – der erste Versuch der Widerstandsgruppe, sich im niederländischen Exil gegen die Nazis zu verbünden ist gescheitert. Aber mein Großvater Theo und sein Freund Plato alias Dr. Hans Ebeling denken gar nicht daran aufzugeben. Im Gegenteil. Es ist ihnen gelungen, genug Geld aufzutreiben, um eine eigene Zeitschrift zu gründen: „Kameradschaft – Schriften junger Deutscher“.

Die Titelseite der ersten Ausgabe von "Kameradschaft - Schriften junger Deutscher". Die Überschrift lautet "Kameradschaft". Die ersten Zeilen lauten: "Wir stehen im Kampfe, wir jungen Deutschen. Was unsere Sehnsucht in Jahren reichen Jugendlebens war, was wir für uns und unser Volk erträumten und ersehnten, ist ferner denn je. Was wir uns schufen, ist zerstört oder tödlich bedroht. Unser Wollen ist verfehmt, unsere Gemeinschaft verboten."

November 1937 – der erste Versuch der Widerstandsgruppe, sich im niederländischen Exil gegen die Nazis zu verbünden ist gescheitert. Aber mein Großvater Theo Hespers und sein Freund Plato alias Dr. Hans Ebeling denken gar nicht daran aufzugeben. Im Gegenteil. Es ist ihnen gelungen, genug Geld aufzutreiben, um eine eigene Zeitschrift zu gründen: „Kameradschaft – Schriften junger Deutscher“.

Die erste Ausgabe erscheint im November 1937 – also ziemlich genau vor 80 Jahren. Das Buch mit dem grünen Cover und den getippten Seiten stand schon als Teenie in meinem Bücherregal. Wie ein Schatz. Aber natürlich hab ich das nicht gelesen. Ich hätte es auch gar nicht verstanden. Und erst heute weiß ich: Es ist tatsächlich ein kleines Wunder, dass es diese Sammlung aller Ausgaben der Kameradschaft überhaupt gibt. Denn bereits im Krieg hatte Plato dafür gesorgt, dass es auf jeden Fall einen Ort gibt, an dem die Zeitschrift aufbewahrt wird. Nur deshalb kann man Vater 1984 – also 46 Jahre nach Erscheinen der ersten Ausgabe – im Eigenverlag einen Nachdruck aller Ausgaben der Kameradschaft veröffentlichen:

„Die Kameradschaft hab ich alleine gemacht. Nein er (Dr. Hans Ebeling, Anm. d. Autorin) hat das Exposee hat er geschrieben dazu. Die ganzen Namen und so weiter, das hat der gemacht und darüber ist er gestorben. Und dann bin ich nach Brüssel gefahren, weil er gesagt hat, die liegen alle bei der Bibliothek Royal. Und hab mir dort die Kopien geholt. Und mit den Kopien hab ich dann quasi die Sammlung gemacht.“

Interview mit meinem Vater vom 25. März 2015

Und nur deshalb kann ich jetzt – 80 Jahre nach der ersten Veröffentlichung – ebenfalls lesen, was mein Großvater und seine Mitstreiter damals geschrieben haben, was sie umtreibt, was sie wussten aus Deutschland, während sie in den Niederlanden saßen. Und warum es durchaus wichtig war, was in dieser Schrift veröffentlicht wurde.

Aufruf zum Widerstand

Die ersten Sätze aus dem Vor- oder Geleitwort der ersten Ausgabe, höre ich 2012, als mich mein Kollege Matthias von Hellfeld überraschend in seine Sendung einlädt. Eine Sendung über Erinnerungskultur in der er auch geplant hatte über meinen Großvater zu sprechen. Und in der ich dann wirklich sehr zufällig sein Gast war:

Ich würde gerne noch ein bisschen mehr Theo Hespers vorstellen, weil er nicht nur ein wirklich mutiger, großer Mann war, der mir auch auf anderem Wege noch mal begegnet ist. Aber er hat eben auch einen großen Einfluss gehabt auf Leute, die sich nicht den Nazis unterstellt haben und unterworfen haben. Und deswegen ist der Satz, den du vorhin gesagt, hast, dass er eben ein kleines Rädchen war, das das Scheitern dieses Systems bewirkt hat, vollkommen richtig. Ich zitier mal einen Satz oder mehrere Sätze aus dem Jahr 1937:

„Wir stehen im Kampfe, wir jungen Deutschen. Was unsere Sehnsucht in Jahren reichen Jugendlebens war, was wir für uns und unser Volk erträumten und ersehnten, ist ferner denn je. Was wir uns schufen, ist zerstört oder tödlich bedroht. Unser Wollen ist verfehmt, unsere Gemeinschaft verboten.
Die braune Pest herrscht in Deutschland. Der Tyrannen Willkür zerstört unsere Heimat. Schwer stöhnt das Volk in den Ketten der Unfreiheit, dunkel und bedroht ist seine Zukunft, für die gerade wir, die Jugend dieses Volkes, Verantwortung tragen.“

Aus der Sendung: „Erinnerung als Erbe“ vom 24. Oktober 2012 (DRadio Wissen)

Das sind ziemlich klare Worte. Und damals in der Sendung war ich tatsächlich überrascht von der Sprachgewalt, die da drin steckt. Nachdem ich aber jetzt den kompletten Text der Einleitung kenne, bin ich dann doch ein wenig verstört.

Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich bin hier und da mächtig zusammengezuckt, als ich das gelesen habe. Denn die Sprache ist schon – nunja – sehr militärisch geprägt. Da wird von Führern gesprochen, von Horden, von Kameraden. Vom Kampf. Die komplette Einleitung klingt wie eine Kabinenansprache im Fußball. Nur eben soldatisch geprägt. Und im ersten Teil bin ich mir gar nicht so sicher, wo sich denn jetzt diese hochgepriesene Kameradschaft von dem unterscheidet, was jetzt eigentlich die HJ so ausmacht. In meinen Ohren klingt das alles nach marschierender Männergemeinschaft – und nicht gerade auf friedlichen Protest ausgerichtet.

Die Sprache der Jugendbewegung

Das Ding ist, um eben diese Zeilen nicht falsch zu verstehen, braucht man eine ganze Menge Grundwissen darüber, was die Jugendbewegung ist, was der Wandervogel ist und wie diese Bewegung entstanden ist. Das wäre aber ein Exkurs, den ich gar nicht leisten kann. Aber so viel kann ich nach meinen Recherchen zumindest sagen: Das Wort „Führer“, das heute so einen ekelhaften Beigeschmack hat, war früher ein ziemlich normaler Begriff. Die Jugendgruppen waren hierarchisch organisiert. Und der Führer war einfach der Jugendgruppenleiter – so würde man das heute wahrscheinlich nennen. Jugendführer halt. Auch die Begriffe Horde und Kameradschaft haben die Jugendlichen, die in den verschiedensten Jugendbünden organisiert waren, ziemlich normal benutzt. Und die Schwüre am Lagerfeuer? Naja, auch heute bei den Pfadfindern wird noch geschworen. Zum Beispiel, dass man allen Menschen hilft, dass man die Pfadfindergesetze achtet oder je nach Text auch, dass man diesen Gesetzen gehorcht. Die christlich geprägten Gruppen wollen natürlich auch den Gesetzen Gottes folgen und so weiter. Diese Schwüre von Zusammenhalt und Gefolgschaft scheinen also ebenfalls ganz normal gewesen zu sein. Auch wenn mir persönlich das heute ziemlich pathetisch vorkommt. Als vernunftbegabter Mensch muss ich sowas nicht schwören, da versteht sich das von selbst.

Der deutliche Unterschied zur Gemeinschaft der Hitlerjugend ist aber, dass die Jugendbewegung tatsächlich – in vielen Fällen – von einem großen Freiheitsgeist geprägt war. Man schwor zwar Gefolgschaft, aber WEM man da nun folgen wollte, das konnte jeder für sich entscheiden. Und es gab wirklich die diversesten Jugendbünde. Katholische, evangelische, jüdische, rechte, linke, militärische, pazifistische – für jeden was dabei sozusagen. Es wurde zusammen gewandert und gereist. Auf großen Jugendzeltlagern traf man sich mit anderen Gruppen aus Europa. Und eins war allen wirklich besonders wichtig: Freiheit. Und die war ja unter der Hitlerjugend jetzt nicht so wirklich gegeben. Eher so gar nicht.

Was mich aber noch stutzig macht: Mein Opa – und das betont auch mein Vater immer wieder – war ja ein ausgesprochener Pazifist. Diese Sprache klingt jetzt eher nicht so pazifistisch. Aber diesen Text hat er – mit großer Sicherheit – nicht alleine geschrieben. Das war eine Gemeinschaftsproduktion mit Plato. Plato wurde im ersten Weltkrieg bereits mit 19 Jahren zum Leutnant der Artillerie ernannt und war Träger des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse. Ein militärischer Karrierist. Und ein Nationalist obendrein. Aber eben kein Nationalsozialist. Außerdem hat er mehrere Jugendbünde geführt – und gegen die Separatisten im Rheinland hat er auch gekämpft. Das zu erklären übersteigt aber bei weitem meine Geschichtskenntnisse. Auf jeden Fall erklärt das den militärischen Tonfall und auch die Analogien zur Kameradschaft im Krieg.

Und Drittens – und darüber musste ich dann auch was länger nachdenken – war es glaube ich sehr, sehr wichtig, die Gemeinschaft zu beschwören. Daran zu erinnern, dass man sich unterstützen muss im Kampf gegen die Nazis – und sich eben nicht gegenseitig verrät. Und am Ende war das einfach eine andere Zeit. Heute sind wir eher in Vereinen organisiert. Die sind auch gerne hierarchisch strukturiert und jede Mannschaft hat nen Trikotsatz und ist auch als Einheit zu erkennen. Aber in der Regel ist der Verband wesentlich lockerer. Und Treueschwüre kenne ich persönlich nur noch aus dem Dackelclub in den Filmen mit Tom Gerhard.

Deutschland aus dem Exil betrachtet

Aber zurück zur ersten Ausgabe der Kameradschaft. Denn die Themen, die dort behandelt werden, geben mir einen ziemlich interessanten Blick auf Deutschland im Herbst 1937. Und – das ist an der Stelle vielleicht nicht unwichtig zu sagen – das sind Informationen und Einschätzungen, die IN Deutschland in der Form niemand hat. Es ist unglaublich schwer einzuschätzen, welche Wirkung diese Schriften damals hatten. Also ob mein Großvater und Plato wirklich jemanden damit erreicht haben oder den Widerstand maßgeblich beeinflussen konnten. Mein Kollege Matthias von Hellfeld, promovierter Historiker, erklärt mir in unserem Interview vom August 2014 dazu folgendes:

Und die Wirkung dieser und anderer Schriften, die darf man wirklich nicht unterschätzen. Du musst dich zurückversetzen – was natürlich sehr schwierig ist für uns – aber du musst dich zurückversetzen in eine Zeit ohne Fernsehen, ohne Radio, ohne Zeitung – beziehungsweise Zeitung nur eine und die war gleichgeschaltet, also Staatszeitung und wenn du dann irgendwas anderes zu lesen bekommen hast, dann hast du dich schon auf gefährliche Pfade begeben. Insofern ist die Wirkung dieser Schrift – die wurde abgeschrieben, vervielfältigt, rumgereicht – enorm. Das haben die zwei nicht so gewusst, da bin ich sicher.

Interview mit Matthias von Hellfeld, August 2014

Ich bin mir in der Beziehung eher unsicher. Sie müssen es zumindest gehofft haben. Und sie hatten auch genügend Kontakte ins Reich, um das eventuell doch mitzubekommen. Und es war auch eher klotzen als kleckern angesagt. In einem Verhör vom 20. November 1940 gibt Selma Meyer, Besitzerin eines Schreibbüros und Unterstützerin des Kameradschaftskreises, folgendes an:

„Die Kameradschaft wurde zuerst im Jahre 1937 in Belgien und zwar in Brüssel gedruckt. Da er seinen Namen als verantwortlicher Herausgeber nicht angeben konnte, da er als politischer Flüchtling hierzu keine presse-polizeiliche Genehmigung bekommen hätte, suchte Dr. Ebeling sich einen Strohmann. Soweit ich mich heute noch besinnen kann, fand Dr. Ebeling die geeignete Person in Fernand Borné, der seinerzeit in Brüssel wohnte. […] Die Auflage betrug in der ersten Zeit ca. 1000 Stück.“

Verhör Selma Meyer, 20. November 1940

In anderen Quellen variieren diese Angaben. Wer verhört wurde, hielt die Zahlen eher klein. Der Gestapo war aber natürlich an möglichst großen Zahlen gelegen. Und ob auch die erste Ausgabe bereits 1000 Exemplare hatte, lässt sich schwer sagen. Aber einige hundert werden es sicher gewesen sein.

Die erste Ausgabe umfasst neben der Einführung fünf weitere Texte. Einen von Plato, einen von meinem Großvater, einen vom niederländischen Jugendleiter Willem Verkade, einen von David. C. (David Cron) Yalden-Thompson, einem britischen Mitglied der Youth Scouts und einen ohne Angabe des Verfassers.

Die Artikel beziehen sich alle auf Ereignisse, die – soweit ich weiß – nicht zum Geschichtsallgemeinwissen gehören. Deshalb werde ich an dieser Stelle kurz die Inhalte vorstellen und ein bisschen zitieren. Aber für alle, die gerne den vollständigen Artikel hören möchten, hab ich Kapitelmarken gemacht – und die Vollversion ans Ende dieses Podcasts gepackt. Ihr könnt also einfach in eurem Podcatcher ein bisschen hin und her springen.

Der JuNaBu-Prozess

In diesem Blogeintrag gibt es erstmal den Artikel von Dr. Hans Ebeling, den er aber unter seinem Fahrtennamen Plato veröffentlicht. Er trägt den Titel „Hut ab vor diesen Helden“ und bezieht sich auf den Prozess gegen Angehörige des Jungnationalen Bundes, kurz JuNaBu. Ein Bund, den Plato selber in den Anfang zwanziger Jahren geführt hatte – damals auch mit militärischer Ausrichtung.

Bevor der Artikel über den JuNaBu startet, gibt es eine kurze Einleitung:

„Nach fast zweijähriger Haft standen vom 14. bis 24. Juni 1937 zehn Angehörige des Jungnationalen Bundes vor dem – in Anführungsstrichen – «Volksgericht». Nach monatelangen Verhören und entsetzlichen Misshandlungen – der Hauptangeklagte Böckling versuchte zweimal Selbstmord – und nach mehrmaliger Vertagung fand der Prozess endlich unter völligem Ausschluss der Oeffentlichkeit statt. Die Deutsche Presse berichtete nichts darüber. Um so stärker war die Anteilnahme des Auslandes.“

Kameradschaft, Ausg. 1 November 1937

In der Tat waren beim JuNaBu-Prozess britische Scouts zugegen, die sich im Sommer 1937 mit Theo und Plato getroffen haben – und die während des Prozesses laut Widerspruch eingelegt hatten. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass einige der Informationen auch von ihnen stammen. Selbst wenn man nicht genau weiß, was da eigentlich verhandelt wird. Schon die ersten Zeilen des Artikels lassen in mir Wut hochkochen:

„Der Essener Prozess

Sitzung des zweiten Senates des «Volksgerichtshofes» in Essen. Es ist der zehnte Verhandlungstag ~ es ist Donnerstag, der 24. Juni 1937. Der Präsident erhebt sich (und sagt): „Das Wort hat der Vertreter der Anklage“.
Der «Oberreichsanwalt», jung, schlank, in roter Toga und mit rotem barrett steht auf und beginnt seine Rede mit einem Zitat aus Schiller’s „Wallenstein“. Er spendet Worte des Lobes auf das nationalistische Vorleben der Angeklagten: Ruhrkampf! Seperatisten! „Hut ab vor diesen Helden!“
Auf der Anklagebank wird die Atmosphäre leichter. Aber dann folgt ~ beinahe ohne Uebergang ~ scharf und hart die Schuldfrage. „Diese Angeklagten, die bis 1933 Helden, Schlageters waren, haben den Anschluss nicht gefunden, haben nicht gefühlt, dass die Zeit der Landsknechte und Freikorps vorbei war, haben nicht begriffen, dass es keinen anderen Führer mehr geben kann als Adolf Hitler und dass kein anderes Gesetz gilt als sein Wort.
wei Jahre lang haben sie noch Zeit gehabt, um auf andere Gedanken zu kommen. Zwei Jahre lang haben sie mit ihren eigenen Augen gesehen, dass der Nationalsozialismus ein Segen für Deutschland und die Rettung für Europa war. Jeden Tag hatten sie die Gelegenheit, sich zu besinnen und unter der Flagge mit dem Hakenkreuz mitzumarschieren. Sie haben es nicht getan, sie blieben in Opposition, erst in ihrem Denken und von Beginn 1935 an auch in Taten. Das ist ihre schwere, ihre nicht zu vergebende Schuld und deshalb fordere ich gegen den Angeklagten Böckling die Todesstrafe, gegen den Angeklagten Lankers lebenslängliches Zuchthaus … “

Kameradschaft, Ausg. 1 November 1937

Ich weiß wirklich nicht, wer da genau, warum auf der Anklagebank sitzt, aber es wird ziemlich schnell klar: Das wird kein faires Gerichtsverfahren. Das hier ist ein Schauprozess. Hier soll ein Exempel statuiert werden.

Der sogenannte Röhm-Putsch

Es folgt ein langes Referat von Plato über den Ruhrkampf 1923. Einen Kampf, den Plato mit seiner JuNaBu-Fraktion „Deutsche Jungenschaft“ ziemlich aktiv geführt hat. Im Wikipedia-Artikel dazu steht, dass er mit seiner Gefolgschaft Sabotage-Akte gegen die Franzosen durchführte und deshalb – in Abwesenheit – von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt wurde. Plato arbeitet sich ab an den Begriffen Freikorps und Landsknechte. Es geht ihm um die Ziele der damaligen Reichswehr und der jetzigen Wehrmacht. Er referiert auch auf die Röhm-Revolte von der NS-Propaganda Röhm-Putsch genannt (den Vorfall werden vielleicht einige von euch kennen).

Damit sind die Ereignisse rund um den 30. Juni 1934 gemeint – auch bekannt als Nacht der langen Messer – bei denen die Nationalsozialisten reihenweise Führungskräfte der SA ermorden ließen. Angeblich um einen Putsch zu vereiteln. Damit wurde eine NS-interne ideologische Streitigkeit zu Gunsten von Hitler „geklärt“. Im Artikel von Plato heißt es dazu:

„Die «Reichswehr» war immer «Staat im Staate». Sie war und ist Kaste. Ihre Generäle treiben immer Politik ~ ohne die Verantwortung zu übernehmen. Die «Reichswehr», die neudeutsche «Wehrmacht» war immer nur um ihrer selbst, um der Generäle Willen da ~ niemals um des Volkes Willen!
Der einzige Versuch des «Nationalsozialismus» anstelle der «Reichswehr» zur Bildung einer Volksarmee vorzustoßen – die Forderung Hauptmann Roehm’s nach einem «Landesverteidigungsministerium» unter Führung der SA – endete mit den Schüssen des 30. Juni. Doch hier schoss die Reichswehr nicht selbst, sondern überliess das Odium des Mordes Hitler und Himmler, dem «Nationalsozialismus» und seiner SS.“

Kameradschaft, Ausg. 1 November 1937

Nach allem, was ich so quer recherchiert habe zum 30. Juni 1934 scheint mir Plato 1937 ziemlich gut über die Hintergründe informiert. Und ich versuche natürlich mir vorzustellen, wie das ist sowas zu lesen, wenn es vorher nur NS-Propaganda dazu gab. Denkt man dann: Ach, so war das?! Die haben uns die ganze Zeit beschissen?! Oder denkt man eher: Tse – da kommt da so ein Verschwörungstheoretiker daher. Sowas würde unser Adolf nie tun. Das ist doch alles gelogen! Ich meine, wir lernen ja gerade, dass für einige Menschen Fakten für den Arsch sind. Die glauben, was sie glauben wollen.

Machtverteilung im NS-Staat

Im weiteren Verlauf des Artikels erklärt Plato auch ein bisschen die Strukturen innerhalb des NS-Regimes. Wer wo seine Finger im Spiel hat, wo die Gestapo waltet und wo die Wehrmacht, die Plato in Anführungsstrichen als Reichswehr bezeichnet.

„Allerdings kann man sich schwer vorstellen, dass die «Wehrmacht» den «nationalsozialistischen» Terror gegen die Bevölkerung ausführt, aber dafür sind die «Totenkopf-Verbände» der SS. und die «Sturmbanne zur besonderen Verfügung» der SA da – und: Konzentrationslager, Zuchthaus und Gefängnis. Die Reichswehr umkleidet sich mit dem Schein von Humanität, aber in ihrem Auftrage wird das Volk, wird die Nation durch den Hitler’schen Nationalsozialismus für das militärische Abenteuer «reif» geprügelt.“

Kameradschaft, Ausg. 1 November 1937

Nach diesem Ausflug über die Wehrmacht und die Strukturen der SS kehrt Plato zurück auf die Geschehnisse im Gerichtssaal. Er berichtet vom Angeklagten Dr. Karl Wegerhoff, einem Juristen. Wegerhoff bringt sich – so die offizielle Version – am 20. Juni 1937 in der Untersuchungshaft selbst um. Auf dem Höhepunkt des Prozesses und ausgerechnet als Joseph Göbbels als Zeuge im Prozess hätte vernommen werden sollen. Dazu kam es dann nicht – oder vielmehr – musste es dann ja auch nicht mehr kommen.

Ich war nie besonders gut in Geschichte und auch jetzt bin ich sicher: Wenn ich das hier noch mal frei referieren müsste, hätte ich wahrscheinlich schon die Hälfte wieder vergessen. Und klar muss man auch Platos Text kritisch lesen. Er verfolgt eigene Interessen und der Text ist natürlich auch dazu geschrieben, kein gutes Haar am Hitlerregime zu lassen. Wir haben allerdings heute den Vorteil zu wissen, dass das wirklich eine riesengroße Scheiße war und man das gar nicht scharf genug kritisieren konnte. Was nicht ausschließt, dass man auch Platos Haltung kritisieren kann.

Was bei mir aber definitiv hängen bleibt: Was für eine krasse Zeit, in der politische Gegner – oder zumindest nicht 100 Prozent linientreue Parteigenossen – einfach so aus dem Weg geschafft werden, indem man sie ermordet. Und gleichzeitig schaue ich in die jüngste Vergangenheit und komme nicht umhin, auch andernsorts wahrzunehmen, dass dort Putschversuche vereitelt, Menschen ohne Anklage inhaftiert und/oder beseitigt werden, als politische Gegner deklariert oder diffamiert. Als Terroristen und Terroristenunterstützer verleumdet. Dann scheinen diese 80 Jahre wieder nur einen Wimpernschlag entfernt zu sein – und alles andere als Geschichte.

Personen:

Theo Hespers – Widerstandskämpfer und mein Großvater

Dr. Hans Ebeling (Plato) – Widerstandskämpfer und Mitherausgeber der Kameradschaft

Selma Meyer – Unternehmerin, besitzt ein Schreibbüro mit 40 Mitarbeitern, unterstützt Theo und Plato bei Druck und Versand der Kameradschaft

Matthias von Hellfeld – promovierter Historiker und Journalist

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  • 21. März 2024, 18 Uhr, Buchmesse Leipzig
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  • 19. Mai 2024, EL-DE-Haus, Köln
  • 8. Juli 2024, Herford

Weitere Lesungen für 2024 sind ebenfalls in Planung. Zum Beispiel in Göttingen, Heidelberg, Augsburg und München.