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Episode 27

Beste Kontakte ins Reich (2)

Dr. Marcus van Blankenstein ist ein niederländisch-jüdischer Journalist. Er arbeitet als Auslandskorrespondent beim Nieuwe Rotterdamsche Courant. Seine kritische Berichterstattung, gefällt den Nazis gar nicht – und so setzen sie den NRC unter Druck …

Die Karikatur nach der Entlassung von Dr. Marcus von Blankenstein beim Nieuwe Rotterdamsche Courant: Ein riesiges Schiff, das den Namen der Zeitung trägt, stürmische See, auf einer Strickleiter ein Mann mit einem Seesack, auf dem M. van Blankenstein steht. Er klettert von der Leiter in ein Rettungsboot. Rechts neben der Karikatur ein Profilbild von Marcus van Blankenstein aus dem Jahr 1944.

Kennt ihr die Theorie von der wellenförmigen Bewegung, die Zivilisationen durchlaufen? Wir entwickeln uns, erreichen ein zivilisatorisches Hoch gekennzeichnet durch schnelle Entwicklung, Reichtum und Frieden, und dann geht’s wieder eine Runde abwärts. Menschen werden ärmer, die Entwicklung stagniert und statt friedlich miteinander zu leben, brechen wir einen Krieg vom Zaun, nur um in der Folge erneut aus Schutt und Asche aufzuerstehen und dann den nächsten Entwicklungsschritt zu machen.

Interessanterweise hat mir ein Freund erst letzte Woche von dieser Theorie erzählt. Wir haben uns über die aktuelle politische Lage unterhalten und über die Menschheit im Allgemeinen. Und plötzlich sehe ich, wie er diese Theorie ins Facebook-Chatfenster tippt – nur in Ansätzen, aber ich wusste sofort, was er meinte. Nicht nur, weil ich im Prinzip selber glaube, dass es so ist. Sondern weil ich gerade erst wieder davon gelesen habe – ausgerechnet in der Biografie von Dr. Marcus van Blankenstein. Er war nicht nur großer Anhänger dieser Theorie, er hat sogar darüber geschrieben. 1939 veröffentlichte er „Het getij der beschaving“ – auf Deutsch: Die Gezeiten der Zivilisation. Wie seine Enkelin schreibt, war van Blankenstein damals der Meinung:

„…eine Abwärtsbewegung der Zivilisation ist noch kein Grund, die Hoffnung aufzugeben. Nach jeder Periode eines Rückfalls (Ebbe) folgte auch wieder eine Umkehr (Flut).“

Aus: Dr. M van Blankenstein – Een Nederlands dagbladdiplomaat, Seite 235

Ich schwöre, ich habe nicht angefangen damit! Das hat sich einfach so ergeben! Aber es zeigt ziemlich deutlich: Ein bestimmter Teil der Menschen nimmt das, was gerade auf der Welt passiert, als Abwärtsbewegung wahr. Trump, Erdogan, das Aufstreben der Rechten in Europa, die nationalsozialistisch verblendeten Auftritte eines Björn-Bernd Höcke und der darauf folgende Applaus … Das ist – gelinde gesagt – spooky. Und vielleicht erst der Anfang. Und genau deshalb ist es genau jetzt wichtig zu erzählen, wie es dem international bekannten und vor allem bei Kollegen und Regierungsvertretern hochgeschätzten niederländischen Journalisten Dr. Marcus van Blankstein bei seiner Haus- und Hofzeitung dem Nieuwe Rotterdamsche Courant, kurz NRC, erging.

Der Einfluss der Nazis auf die Auslandspresse

Dazu springen wir ins Jahr 1935. Inzwischen hatten die Nazis die Judenverfolgung gut organisiert, den Judenhass erfolgreich verbreitet, waren die deutsche Presse und die deutschen Behörden gleichgeschaltet und zahllose politische Gegner eliminiert, indem sie entweder gleich ermordert oder zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. All diese Aktivitäten hatte Marcus van Blankenstein genau im Blick und warnte vor ihren weitreichenden Folgen:

„Dass das Nazi-Regime in Deutschland eine Bedrohung für den Frieden in Europa war, war für Van Blankenstein mehr als deutlich. In seinen Betrachtungen der Weltpolitik wies er seine Leser immer wieder auf die gefährlichen Aspekte des National-Sozialismus hin. Seine Aussagen im NRC lassen keinen Zweifel an seiner Abscheu gegenüber den Entwicklungen in Deutschland.“

Aus: Dr. M van Blankenstein – Een Nederlands dagbladdiplomaat, Seite 208

Diese kritischen Berichte aus den Niederlanden wurden natürlich auch in Deutschland gelesen – und kamen erwartungsgemäß so gar nicht gut an. Und jetzt kommt das, was ich bislang tatsächlich nicht auf dem Schirm hatte: Das Auswärtige Amt in Deutschland bestraft im Herbst 1935 den NRC mit einem Anzeigenboykott für die anti-deutsche Berichterstattung. Eine Maßnahme, die im Übrigen bereits 1934 im Gespräch war. Und tatsächlich – die ausbleibenden Anzeigen für deutsche Kur- und Erholungsorte bescheren dem NRC einen Verlust von mehreren zehntausend Gulden. Der damalige Direktor des NRC, Nijgh, muss deshalb 1936 beim Auswärtigen Amt ordentlich klinkenputzen, damit der Anzeigenboykott wieder aufgehoben wird. Er verspricht, dass Van Blankenstein entsprechend gemaßregelt wird – durch Pieter Christiaan Swart, der im Mai 1936 neuer Chefredakteur des NRC wird. Zwar wird das Anzeigenboykott wieder aufgehoben, aber die Deutschen wollen sich nicht alleine auf die Versprechen des NRC-Direktors verlassen.

„Nach dem Anzeigenboykott machten deutsche Diplomaten in den Niederlanden Gebrauch von ihren Verbindungen in die Rotterdamer Geschäftswelt, um Druck auf den NRC auszuüben. Nach einem Tipp von Windecker, dem deutschen Konsul in Rotterdam, dass Van Blankensteins Berichte schädliche Folgen für die Ökonomie der Maasstadt haben könnten, trafen sich einige Rotterdamer Unternehmer – unter ihnen D. G. van Beuningen von der Steinkohlen-Handelsvereinigung (SHV) und der Bankier K.P. van der Mandele, zu einer Unterredung mit Nijgh und Van der Hoeven (damals scheidender Chefredakteur des NRC, Anm. d. Autorin) über Van Blankensteins anti-nazistischen Berichte.“

Aus: Dr. M van Blankenstein – Een Nederlands dagbladdiplomaat, Seite 217

Mit anderen Worten: die deutsche Regierung macht sich nicht etwa selbst die Finger schmutzig, sondern interveniert geschickt über die geschäftlichen Verbindungen. Damit steht das Traditionsblatt NRC unter gehörigem finanziellen Druck. Wie sehr die deutsche Regierung Van Blankenstein im Visier hatte, zeigt nicht zuletzt diese Textpassage aus dem Buch seiner Enkelin:

„Im März 1936 beschloss ein Mitarbeiter des Deutschen Konsulats in Rotterdam seinen Bericht an die Deutsche Gesandtschaft in Den Haag mit den Worten: ‚Das Zentrum der Hetze gegen Deutschland ist vielmehr unter den holländischen Juden zu suchen, von denen der berüchtigte aussenpolitische Redakteur Blankenstein vom ‚Nieuwe Rotterdamsche Courant‘ als erster zu nennen ist.'“

Aus: Dr. M van Blankenstein – Een Nederlands dagbladdiplomaat, Seite 208

Das Problem des NRC war nur: Wie wird eine so bekannte und weit verbreitete Tageszeitung einen so renommierten Journalisten los? Am Ende ging es nicht ohne einen Skandal. Ob der absichtlich provoziert wurde, oder ob es einfach daran lag, dass Marcus van Blankenstein mit dem neuen Chefredakteur der Zeitung nicht klar kam, lässt sich nicht eindeutig belegen. Bei dem massiven Druck unter dem der NRC stand, dürfte Zweiteres aber zumindest ein willkommener Faktor in dieser Angelegenheit gewesen sein.

Der Lotse geht von Bord

Die Karikatur: „Der Lotse geht von Bord“ zeigt Marcus van Blankenstein, der von Bord des NRC klettert.

Als der alte Chefredakteur Van der Hoeven im Mai 1936 seinen Sitz an Pieter Christiaan Swart übergibt, folgt auch eine Umstrukturierung beim NRC. Und nach über 25 Jahren beim NRC bekommt Dr. Marcus van Blankenstein plötzlich einen Chef vor die Nase gesetzt, der sich einmischen will. Unter Van der Hoeven genoss er vollstes Vertrauen in seine Tätigkeit – und damit eine enorme Unabhängigkeit. Swart wollte aber ab sofort das letzte Wort haben, wenn es um das Ressort Außenpolitik ging. Für Van Blankenstein ein Affront, zumal er der Meinung war, dass Swart keine Ahnung von Außenpolitik hatte. Der Grundstein für eine Eskalation war damit gelegt.

Der Streit eskaliert im Mai 1936 als Van Blankenstein von der monatlichen Konferenz des Völkerbundsrats in Genf berichten will:

„Die Atmosphäre in der schweizerischen Konferenzstadt war nicht erfrischend, vor allem nicht nach der Bekanntmachung, dass der Kaiser von Abessinien, Haile Selassie, aus seinem Land hatte flüchten müssen. In einem Artikel über den internationalen Zustand, dessen Text er (MvB) am Telefon durchgab und der unter seinem persönlichen Kürzel im NRC abgedruckt wurde, übte Van Blankenstein scharfe Kritik an der Aufstellung der Westmächte und ihrem Fehlen an Tatkraft gegenüber dem schamlosen Auftreten von Hitler und Mussolini. Was er genau sagen wollte ist nicht mehr herauszufinden, weil Swart vor der Publikation des Artikels einige Stellen aus dem Text gestrichen hat. Als er nach Hause kommt, kriegt Van Blankenstein von seinem neuen Chefredakteur zu hören, dass er in seinen weiteren politischen Betrachtungen für die Zeitung in Zukunft unnötige Spitzen an die Adresse des Deutschen Regimes unterlassen soll.“

Aus: Dr. M van Blankenstein – Een Nederlands dagbladdiplomaat, Seite 214

Van Blankenstein verspricht zwar, in Zukunft vorsichtiger zu sein, aber der Streit zwischen ihm und seinem Chefredakteur schwelt weiter. Und Van Blankenstein riecht den Braten. Am 28. September 1936 schreibt er an den Chefredakteur des Utrechtsch Nieuwsblad, er habe das Gefühl, Swart würde die Eskalation absichtlich suchen, um ihn loszuwerden. Ende 1936 ist dann klar: Es wird keine weitere Zusammenarbeit zwischen Van Blankenstein und dem NRC mehr geben. Van Blankenstein verlässt die Tageszeitung zum Ende des Jahres.

Marcus van Blankenstein – Ein verfolgter Journalist

Warum ich die Geschichte von Van Blankenstein erzähle? Nun, zum einen, weil sie gerade unfassbar aktuell ist, wenn wir uns anschauen, wie gerade in den USA mit der Presse umgegangen wird. Sie zeigt, wie subtil die deutsche Regierung bereits ziemlich früh versucht hat, auch die Presse der Nachbarländer zu beeinflussen und kritische Berichterstattung über Deutschland zu unterbinden. Ich persönlich hatte diesen Einblick in die deutsche Geschichte bisher nicht. Mir war nicht klar, dass es schon so früh massiven Einfluss auf die Presse der Nachbarländer gab. Das kann aber natürlich daran liegen, dass ich eben keine Geschichtskoryphäe bin – aber damit bin ich ja nicht allein.

Zum anderen zeigt die Geschichte aber auch sehr deutlich: Der niederländische Journalist Dr. Marcus van Blankenstein war tatsächlich ein extrem einflussreicher Journalist, von dem sich die deutsche Regierung durchaus bedroht fühlte. Und es hat nichts mit Wichtigtuerei zu tun, wenn mein Vater stolz von dieser Verbindung erzählt. Zumal Marcus van Blankenstein – wie sich später herausstellen wird – nicht nur als Journalist gearbeitet hat. Er betätigte auch als Mittelsmann zwischen dem niederländischen, dem britischen und tschechichen Geheimdienst – und bringt meinen Großvater mit eben diesen Nachrichtendiensten in Kontakt. Mein Großvater hat tatsächlich für die Geheimdienste gearbeitet – und diese Kontakte hätten ihm sogar das Leben retten können. Hätten.

Das Leben von Marcus van Blankenstein und seiner Familie konnten sie retten. Er schafft es nach dem Überfall auf die Niederlande am 13. Mai 1940 rechtzeitig nach Den Haag, um dort von den Briten ein Visum zu erhalten und mit seiner Familie nach London zu flüchten. Damit ist er den Nazis denkbar knapp entkommen.

Ob er damit gerechnet hat, dass er seine Heimat so Hals über Kopf verlassen muss? Sicher ist das nicht. Elisabeth van Blankenstein schreibt in der Biografie über ihren Großvater:

„Mit dem Wissen von heute ist Marcus Van Blankensteins Optimismus Ende der 30er Jahre kaum vorzustellen. Es kann sein, dass sein Vertrauen in einen glimpflichen Ablauf verstärkt wurde durch seine Informationen vom Britischen Militär-Nachrichtendienst, mit dem er enge Beziehungen unterhielt. […] Die britische Regierung hielt es ernsthaft für möglich, dass Hitlers eigene Leute ihn würden davon abhalten können, seine Kriegspläne umzusetzen. […] Obwohl MvB vor den Gefahren für Europa warnt, bleibt es unbegreiflich, warum er selbst so lange die Augen davor verschlossen hielt, dass das wirklich auch passieren kann. […] Ende der 30er Jahre war Marcus Van Blankenstein der Meinung, dass Nazi-Deutschland einen derartigen geistigen und ethischen Tiefpunkt erreicht hat, dass sich die Bewegung bald wieder umkehren sollte. Er unterschätzte jedoch die Dämonie von Hitler.“

Aus: Dr. M van Blankenstein – Een Nederlands dagbladdiplomaat, Seite 234-235


Mein großer Dank gilt Elisabeth van Blankenstein, mit deren Erlaubnis ich hier Teile aus der Biografie ihres Großvaters veröffentlichen darf.

Links mein Vater, rechts Elisabeth van Blankenstein und in der Mitte ich bei einem gemeinsamen Treffen in Mönchengladbach am 30. September 2016.

Elisabeth van Blankenstein (links) ist die Enkelin von Dr. Marcus van Blankenstein.

Personen:

Dr. Marcus van Blankenstein – Niederländischer Journalist und Kontaktmann des britischen und niederländischen Geheimdienstes

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  • 10. März 2024, um 11 Uhr in Wuppertal (genauere Infos folgen)
  • 21. März 2024, 18 Uhr, Buchmesse Leipzig
  • 7. Mai 2024, Fritz-Bauer-Forum, Bochum
  • 19. Mai 2024, EL-DE-Haus, Köln
  • 8. Juli 2024, Herford

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